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       # taz.de -- Roman über Alltag in der DDR: Leben in subtilen Abweichungen
       
       > Unaufgeregt, aber unbarmherzig im Detail: Autorin Patricia Holland Moritz
       > umkreist in ihrem Roman „Kaßbergen“ so packend wie genau den DDR-Alltag.
       
   IMG Bild: Miefige Welt des real existierenden Sozialismus: vorm Nischel im Zentrum von Karl-Marx-Stadt 1975
       
       Eine Feier aus Anlass des ersten Schulzeugnisses in der 26. Etage im
       „Interhotel Kongreß“: Die Bar bietet einen Panoramablick über
       Karl-Marx-Stadt und das Erzgebirge. Oma, Opa, Mutter und Kind sind die
       einzigen Gäste, beeindruckt vom eigens aus Stockholm importierten
       „Schwedenputz“ an den Wänden des Hochhauses, nehmen sie den Aufzug.
       
       Oben bestellen sie beim überkorrekten und zugleich abweisend wirkenden
       Kellner „drei Sektschalen, drei Schweden-Eisbecher mit Apfelmus und ein
       Kalbsmaststeak au Four“. Die Damen genehmigen sich „Rotkäppchen süß“ und
       Eierlikör aufs Eis, der Herr will zum Fleisch auch ein Bier, das Kind
       bekommt keine Limonade, es hat schließlich schon Eis. Radebrechend liest es
       die Einträge aus dem Zeugnis vor: „Ha-t ei-ne gu-te Auf-fass-uh-ngs-ga-be.“
       Seine Mutter flirtet mit dem Kellner. „Kaßbergen“, der Roman von Patricia
       Holland Moritz steckt voller banaler Alltagsszenen wie dieser.
       
       Dabei verklärt die Autorin die triste und miefige Welt des real
       existierenden Sozialismus nicht, sie entdeckt in den Nischen allerhand
       Skurriles und extrahiert aus dem Unspektakulären magischen Realismus.
       Unaufgeregt, aber unbarmherzig im Detail schildert Holland Moritz eine
       Familie und ihr Leben in subtilen Abweichungen von (sprachlichen) Normen.
       
       ## Schroffes Antlitz
       
       Das Kind merkt sich den Begriff Osmose aus dem Biologieunterricht:
       Teppichstangen im Hinterhof des Wohnhauses verschwimmen mit dem Erdbeerbeet
       des Nachbarn zum Abenteuerspielplatz. Die Puppenstubenatmosphäre mag
       surreal anmuten, sie verkitscht nie die Wesenszüge des Sozialismus, sein
       schroffes Antlitz und seinen Machtpol.
       
       „Mangelwirtschaft“ erklärt die Oma ihrer Enkelin anhand des stotternden
       Motors der Heißmangel. Oma heißt in der Familie nur „der Minister“, Opa
       „Häuptling“. Die Mutter verschwindet allmählich aus der Handlung, will zum
       Liebhaber in den Westen und ist auch sonst eine selbstbestimmte Frau mit
       Stil. Das Kind zieht zum Vater, der in einer Gießerei schuftet und mit
       „Pfuschen“ (Schwarzarbeit) sein Gehalt aufbessert. Neben seiner Freundin
       sitzt er auf dem Sofa, blättert einen West-Autoatlas durch, während sie in
       einem alten Katalog vom Versandhaus Quelle versinkt – Reiserouten, die
       nicht möglich sind, Waren, die es nicht zu kaufen gibt.
       
       Andere Gegenstände sind dagegen im Überfluss vorhanden, Bücher zieren wie
       eine Tapete die Regale aller Wohnungen, gelesen werden sie nicht. Ein
       Schminktisch verwaist bei der Oma im Schlafzimmer, seine Schubladen dienen
       zur Aufbewahrung von Wollresten und ausgesonderten Lockenwicklern. „Die
       ganze Stadt und das Leben in ihr war ein einziges Lecken von Wunden, ein
       Reparieren und Übertünchen und das alles so freudlos, als wäre den Menschen
       jeglicher Sinn für Ästhetik und Schwelgen abhandengekommen“, heißt es an
       einer Stelle.
       
       ## Opfer des Stalinismus
       
       Benannt nach einem Stadtviertel von Chemnitz, entwickelt „Kaßbergen“
       zunächst als Familienroman seinen Sog, im Kern steht das Coming-of-Age der
       Protagonistin: Das namenlose, teils vernachlässigte Kind wird zu Ulrike
       Uhlig, einem aufbegehrenden Teenager, der in der Schule aneckt, etwa, als
       er im Geschichtsunterricht nach Hinweisen der Oma, deren Bruder ein Opfer
       des Stalinismus war, das Tabu Stalin anspricht.
       
       Schließlich ist Ulrike eine junge Frau, die erste Schreibversuche
       unternimmt und im Club „Pablo Neruda“ als Autorin reüssieren möchte, da
       liegt die DDR schon am Boden, aber zuckt noch. Von den bereits etablierten
       Alphatierchen wird die junge Frau bei den Leseabenden herablassend
       behandelt. Daher erkennt sie im anderen Außenseiter des Clubs, dem Punk
       „Gonzo“, einen Seelenverwandten, den die Stasi im Visier hat.
       
       Ulrikes Aufwachsen in den 1970er und 1980er Jahren ist zugleich eine
       Geschichte der Industriestadt mit den beiden Bindestrichen „in der Mitte
       Sachsens“. Die hat im 20. Jahrhundert zweimal ihren Namen geändert: von
       Chemnitz zu Karl-Marx-Stadt, wieder zurück zu Chemnitz. Dementsprechend
       haben die historischen Umbrüche an der Stadt und ihren Bewohner:innen
       tiefe Spuren hinterlassen: Straßen wurden mehrmals umbenannt, alte Häuser
       verfallen, aber die Umgestaltung zur sozialistischen Modellstadt kommt
       außer dem Errichten einer Schneise durchs Zentrum nicht wirklich voran.
       
       ## Schlechter Radioempfang
       
       Menschen sind durch die Kriege traumatisiert und gequält, verschwinden im
       Knast, wandern aus oder werden gar umgebracht. Wie die Trambahn sich die
       Steigungen zum Viertel Kaßbergen hinauf und wieder hinunter quält, dabei
       quietscht und ächzt, so mäandert die Handlung durch die Historie, man folgt
       ihr dennoch gebannt. „Abends wird es finster. Morgens wird es hell und dazu
       schlechter Empfang im Radio.“
       
       Bis heute ist Chemnitz auch durch seine geografische Lage [1][Terra
       incognita] geblieben, aus dem Westen zieht es nur wenige dahin. Meist wird
       die Stadt [2][mit den rechtsradikalen Riots von 2018 assoziiert] und nicht
       als Wiege der Textilindustrie und Stadt mit einem bis 1933 jüdisch
       geprägten und kunstaffinen Bürgertum.
       
       Zuletzt bei der Debatte über die unselige #allesdichtmachen-Aktion wurde
       wieder deutlich, wie unerledigt die Aufarbeitung der deutsch-deutschen
       Vergangenheit doch ist; wie Menschen, die einst in der DDR aufgewachsen
       sind und angesichts von Coronapandemie heute von Meinungsdiktatur faseln,
       ihre eigene Geschichte verklären. Wohingegen auch BRD-Linke nicht gegen
       Geschichtsklitterung gefeit sind, wenn sie reflexhaft das Klischee bemühen,
       wonach ja nicht alles schlecht gewesen sei in der DDR.
       
       Patricia Holland Moritz, geboren und aufgewachsen in Karl-Marx-Stadt und
       heute in Berlin lebend, hatte in der Filmkritikerin und Humoristin Renate
       Holland Moritz eine in der DDR berühmte Mutter. Bis sie nach Jahren des
       Suchens das „Schriftsteller-Gen“ angezapft hat, arbeitete sie als
       Buchhändlerin, verbrachte die Jahre nach der Wende in Paris und wurde
       Bookerin für Bands.
       
       Heute sitzt sie für die SPD im Stadtrat des Berliner Bezirks Lichtenberg.
       Bisher hat Holland Moritz einige wohlwollend aufgenommene Kriminalromane
       veröffentlicht, trotzdem fühlt sich „Kaßbergen“ wie ein Debütroman an. Wie
       sie darin scheinbar nebenbei in kleinen Ellipsen die großen historischen
       und gesellschaftlichen Bögen umkurvt, die als Klammern für die
       Familiengeschichte dienen, aber auch Raum für Rückblenden und
       Abschweifungen zu realen Figuren der Zeitgeschichte zulässt, das ist
       packend: So taucht der [3][in Chemnitz aufgewachsene Schriftsteller Stefan
       Heym] auf. Er musste mit seiner jüdischen Familie vor den Nazis 1938 in
       höchster Not aus Sachsen fliehen. Ulrikes Großeltern sind ihm begegnet. Sie
       erleben den Ersten Weltkrieg, die Weimarer Republik und die Machtergreifung
       der Nazis. Ihr Heranwachsen mit dem Ballast der Erinnerungen und
       Auslassungen wirft viele Fragen auf, die sich Ulrike – je nach Reife – zu
       erklären versucht.
       
       „Kaßbergen“ steht ein Diktum des verfemten [4][DDR- Arbeiterschriftstellers
       Werner Bäunig] voran: „Man hat schon wirklich daneben gegriffen auf der
       Sitzbrille des Lebens, ganz schön in die Röhre hat man, das kann man wohl
       sagen.“ Im Roman lässt sich Ulrike bei einem Interview die Erlebnisse eines
       Bergarbeiters aus der Wismut-Uranförderung erzählen. Späte poetische
       Gerechtigkeit für ein weiteres vergessenes Kapitel deutscher Geschichte.
       
       27 May 2021
       
       ## LINKS
       
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