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       # taz.de -- Spitzenkandidat Bartsch über die Linke: „Wir brauchen einen neuen Marx“
       
       > Dietmar Bartsch führt die Linke mit Janine Wissler in den Wahlkampf. Für
       > die Schwäche der Partei macht er intellektuelle Ratlosigkeit
       > verantwortlich.
       
   IMG Bild: Dietmar Bartsch, Fraktionsvorsitzender der Linken-Bundestagsfraktion
       
       taz: Herr Bartsch, Janine Wissler und Sie treten bei der Bundestagswahl im
       Herbst als Spitzenkandidat:innen der Linken an. Können Sie es mit
       [1][Annalena Baerbock] aufnehmen? 
       
       Dietmar Bartsch: Ja, selbstverständlich. Wir nehmen es aber auch mit
       [2][Armin Laschet], [3][Olaf Scholz] und [4][Christian Lindner] auf. Ich
       habe bei niemandem ein Gefühl der Unterlegenheit.
       
       Die Linke steht in Umfragen bei sechs Prozent. Keine gute Ausgangsposition. 
       
       Entscheidend ist das Wahlergebnis im September. Wir sind seit dem Parteitag
       Ende Februar in einer neuen, einer guten Situation. Wir haben nach einer
       sehr, sehr langen bleiernen Zeit die Möglichkeit, einen Aufbruch
       hinzukriegen. Das Ziel, bei der Bundestagswahl zweistellig zu werden, ist
       unser gemeinsames Ziel und realistisch.
       
       Wie wollen Sie denn Aufbruchstimmung erzeugen? 
       
       Die Bundesregierung gibt ein desaströses Bild ab. Beim Impfen oder beim
       Testen ging es anfangs nur sehr schleppend voran. Die Gesellschaft driftet
       sozial dramatisch auseinander. Dazu kommt ein unvorstellbares Maß an
       Korruption in der Union, der „FC Eigene Tasche“. Mehrere Leute, die wegen
       Korruptionsvorwürfen gegangen sind oder unter Korruptionsverdacht stehen.
       Unfassbar!
       
       Dazu kommt, dass Angela Merkel aufhört. Wir sind klar: mit dieser Union
       werden wir niemals koalieren. Für die Linke ist das eine große Chance.
       Deswegen bin ich zuversichtlich mit Blick auf die Bundestagswahl. Und
       optimistisch, dass die Landtagswahl in Sachsen-Anhalt für uns die Wende
       bringen wird.
       
       Aber es ist doch auffällig, dass die Misere der CDU der Linken, aber auch
       der SPD gerade gar nichts nutzen. Weshalb? 
       
       Ja, das ist ein generelles Problem der politischen Linken. Ob man nach
       Italien, Spanien oder nach Frankreich schaut – sozialdemokratische und
       sozialistische Parteien sind vielfach in einer Krise. Dafür gibt es
       offensichtlich Gründe.
       
       Welche? 
       
       Wir müssen uns fragen, ob die Linke die richtigen Antworten auf die
       Gesellschaftsveränderungen und die Herausforderungen der Krisen des 21.
       Jahrhunderts hat. Wir müssen aus den sozialen und gesellschaftlichen
       Veränderungen Konsequenzen ziehen. Eigentlich brauchen wir einen neuen
       Marx.
       
       Der Linken fehlt ein zeitgemäßer theoretischer Überbau? 
       
       Der fehlt ein Stück weit. Ein wichtiger Punkt: Ich bin der festen
       Überzeugung, dass wir niemals vergessen dürfen, dass wir in der Tradition
       der Arbeiterbewegung stehen. Das heißt eben auch, dass es von Linken
       niemals nur einen Hauch von Verachtung oder Oberschlausein für diejenigen
       geben darf, die in prekären Verhältnissen leben oder die das mit dem
       Klimawandel oder der korrekten Sprache nicht so sehen wie wir. Im
       Gegenteil, gerade das sind die Leute, die uns brauchen, für die wir uns
       gegründet haben.
       
       Gibt es diese Tendenzen von Verachtung für Menschen, die Diesel fahren und
       nicht gendern, in der Linken? 
       
       Es hat offensichtlich solche Tendenzen gegeben.
       
       Das [5][behauptet Sahra Wagenknecht auch.] Sie spricht von
       Lifestyle-Linken, die sich eher um „Marotten“ von Minoritäten kümmern als
       um drängende soziale Fragen. Sie teilen also die These ihres neuen Buches? 
       
       Ich habe es nicht gelesen. Und über Bücher, die ich nicht gelesen habe,
       rede ich nicht.
       
       Warum lesen Sie es nicht? 
       
       Warum soll ich es bei meinem begrenzten Zeitbudget lesen?
       
       Weil alle darüber diskutieren. 
       
       Das Buch ist ein interessanter Wortbeitrag, aber nicht die Grundlage für
       unseren Wahlkampf.
       
       Sahra Wagenknecht ist Spitzenkandidatin der Linken in Nordrhein-Westfalen. 
       
       Den Kurs bestimmen die entsprechenden Gremien. Sahra Wagenknecht ist von
       diesen auf Listenplatz eins im bevölkerungsreichsten Land der
       Bundesrepublik Deutschland gewählt worden. Ich bin sicher, dass sie sich
       für den Erfolg der Linken mit aller Kraft einbringen wird.
       
       Dennoch die Frage: Hat die Linkspartei sich in den vergangenen Jahren unter
       Führung von Katja Kipping zu stark auf die urbanen, akademischen Milieus
       und auf Identitätspolitik fokussiert? 
       
       Ich teile diese Einschätzung zu Katja Kipping ausdrücklich nicht. Sie
       engagiert sich gerade im Hartz-IV-Bereich, das ist ihr Thema Nummer eins.
       Ich weiß, sie wird gern in eine andere Schublade gesteckt, aber wir müssen
       dafür sorgen, dass wir dieses einseitige Image nicht noch bedienen. Ich
       selbst bin mehr Lifestyle-Linker als andere und stehe für Klassenpolitik.
       Ich meine, die jetzige Aufstellung Klassenpolitik versus Identitätspolitik
       ist akademisch notwendig, politisch aber natürlich irre. Corona ist eine
       Klassenfrage. Die Klimafrage ist eine Klassenfrage. Gleichstellung ist eine
       Klassenfrage. Was denn sonst?
       
       Auf welche Themen sollte die Linke im Wahlkampf setzen? 
       
       Ganz zentrale Themen sind für mich: Arbeit, Rente, wer bezahlt die Krise,
       unser Gesundheitssystem, Klimagerechtigkeit und Sicherheit. Nach der Krise
       sind vielfach die Kassen leer. Ich prophezeie, es wird einen Angriff auf
       die Sozialsysteme geben. Die Linke ist die Garantin des Sozialstaates, den
       wir zukunftsfest machen müssen. Fast drei Viertel der Menschen unter 32
       Jahren haben Angst vor Altersarmut. Das ist ein Gift für den Zusammenhalt.
       
       Aber für genau diese Themen kämpft doch die Linkspartei seit Jahren. Warum
       dringt sie damit nicht durch? 
       
       Wir dringen nicht so damit durch, wie ich mir das wünsche. Ich bin der
       festen Überzeugung, dass wir in der Linken spätestens nach der
       Bundestagswahl beginnen müssen, eine programmatische Diskussion zu führen,
       um die Frage zu beantworten: Was ist demokratischer Sozialismus im 21.
       Jahrhundert?
       
       Ein neues Grundsatzprogramm? 
       
       Ja. Wir brauchen eine Programmdiskussion und im Ergebnis ein neues
       Parteiprogramm. Wir haben uns damals, 2011, über das Erfurter Programm
       gefreut, in dem WASG und PDS zusammengekommen sind. Da sind aber auch
       manche Dinge zufällig beschlossen worden. Heute ist das Erfurter Programm
       der Heilige Gral, je nach Bedarf.
       
       In Berlin hat die rot-rot-grüne Regierung die Klassenfrage praktisch
       gestellt und einen Mietendeckel eingeführt. Und hat sich prompt eine
       blutige Nase geholt. War der Mietendeckel einfach schlecht gemacht? 
       
       Wer die Klassenfrage thematisiert, muss auch bereit sein, sich eine blutige
       Nase zu holen, sonst hat er die Klassenfrage nicht gestellt.
       
       War es also richtig, den Mietendeckel einzuführen, obwohl das
       Bundesverfassungsgericht ihn wieder kassiert hat? 
       
       In Berlin ist bezüglich der Mietenfrage ein erfolgreicher Durchbruch
       gelungen. Dieses Thema ist ein zentrales Thema geworden. Ich bin weiterhin
       der Auffassung, dass es gut war, den Mietendeckel einzuführen, trotz der
       juristischen Niederlage, die sich im Übrigen nicht inhaltlich gegen den
       Mietendeckel richtet.
       
       Hat das Verfassungsgericht ein politisches Urteil gefällt? 
       
       Das Bundesverfassungsgericht hat festgestellt, dass ein Mietendeckel auf
       die Bundesebene gehört und nicht von einem Land hätte eingeführt werden
       dürfen. Deswegen haben wir einen Auftrag: Wir werden die Themen Mieten und
       Mietendeckel zu einem zentralen Thema in der Wahlauseinandersetzung und in
       der nächsten Legislatur machen. Wohnen muss bezahlbar sein. Und zwar für
       alle!
       
       Dazu müsste die Linke im Bund regieren. Wieviel linke Politik kann man mit
       den Grünen umsetzen? 
       
       Das werden wir sehen. Die Grünen sind in elf Ländern in
       Regierungsverantwortung, drei Mal auch mit uns. Ich wage die These, dass
       man den Mietendeckel in einer Ampelkoalition niemals durchsetzt. Ich
       wünsche Frau Baerbock und Frau Esken viel Spaß dabei, ihre Wahlprogramme
       mit Herrn Lindner umzusetzen. Es ist schon bemerkenswert, dass die FDP vor
       einem Jahr in Thüringen mit Faschisten paktierte und jetzt von Grünen und
       SPD hofiert wird. Kampf gegen Kinder- und Altersarmut, eine
       Kindergrundsicherung und eine Rentenkasse, in die alle einzahlen – das
       könnte zentral sein in einem Mitte-Links-Bündnis.
       
       Ist das eine Werbung für Grün-Rot-Rot? 
       
       Ich werbe für die Stärkung der Linken. Punkt. Im Wahlkampf geht es
       ausschließlich um uns, nicht um irgendwelche Konstellationen. Die
       Voraussetzung, wenn man wirklich ein Mitte-Links-Bündnis will, ist, dass
       wir zulegen. Sonst braucht man darüber nicht nachzudenken.
       
       Die Linkspartei muss mindestens bei zehn Prozent landen, sonst kommen
       Sondierungen gar nicht in Frage? 
       
       Wir hatten 2017 ein Ergebnis von 9,2 Prozent. Wenn es für unsere Politik
       weniger Zustimmung geben sollte, mal ganz theoretisch, werden wir
       vermutlich engagiert an etwas anderem arbeiten. Wird unsere Position
       gestärkt, sind wir bereit, Regierungsverantwortung auf der Bundesebene zu
       übernehmen.
       
       Und auch fähig? 
       
       Wir sind selbstverständlich fähig, Regierungsverantwortung zu übernehmen.
       Das sieht man in Thüringen, Berlin und Bremen, dort machen wir den
       Unterschied. Am Ende des Tages würde das bei uns durch einen
       Mitgliederentscheid entschieden. Und ich bin ganz sicher, wenn wir konkret
       über Regierungsverantwortung abstimmen sollten, wird es eine überzeugende
       Mehrheit dafür geben.
       
       Grünen-Chef Robert Habeck fordert aber zuvor ein Bekenntnis zur Nato. Wäre
       Ihre Partei dazu bereit? 
       
       Wir brauchen Antworten auf die Krisen des 21. Jahrhunderts. Soziale
       Sicherheit, Klimakrise, Migration. Keine Bekenntnisse. Dafür machen wir den
       Wählerinnen und Wählern ein Angebot. Die Nato als Relikt des Kalten Krieges
       hat auf die globalen Herausforderungen keine Antworten. Der französische
       Präsident Macron hat sie nicht ohne Grund als „hirntot“ bezeichnet. Wir
       brauchen starke globale Organisationen, aber sicher keine Bekenntnisse zu
       den Aufrüstungsorgien der Nato.
       
       10 May 2021
       
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