# taz.de -- Reden über den Nahen Osten: Hauptsache, alles so wie immer
> Unsere Kolumnistin traut der deutschen Debatte über den Nahen Osten
> nicht. Sie hört interessiertes Schweigen und viel desinteressiertes
> Sprechen.
IMG Bild: Ein beschädigtes Apartment in Petah Tikva, Israel, nach einem Raketenangriff aus Gaza am 13. Mai
Wahrscheinlich kennen Sie dieses Gedankenspiel, es wird in sozialen
Netzwerken gern geteilt und ist bestimmt älter als das Internet: Wenn deine
Enkelkinder dich eines Tages fragen, was du gegen ____ getan hast, was
wirst du ihnen antworten? In die Lücke lässt sich der [1][Klimawandel]
setzen, der Umgang mit Geflüchteten an Europas Grenzen, [2][die
Unterdrückung der Uigur:innen] in China. Oder, wie zuletzt: die Gewalt
zwischen Israelis und Palästinenser:innen.
Mich trifft dieses Gedankenspiel, jedes Mal. Was werde ich meinen
Enkelkindern sagen über den Krieg im Nahen Osten? Soll ich darüber sprechen
und schreiben, muss ich? Kann ich?
Ich finde keine Worte und stoße überall auf Hemmungen, meine eigenen und
die von anderen. Ich höre interessiertes Schweigen und sehr viel, was ich
für desinteressiertes Reden halte. Ganz ehrlich, den meisten, die in den
letzten Wochen über den Nahostkonflikt gesprochen haben, traue ich nicht.
Mein Misstrauen fängt bei der Frage an, ob sich die Sprechenden bewusst
sind darüber, dass Israel und der Gazastreifen echte Orte sind mit echten
Menschen, die echte Dinge erleben. Dass auch Palästinenser:innen mehr
sind als schnell ansteigende Zahlen, obwohl wir ihre Geschichten viel zu
selten erfahren. Dass es leicht ist, aus der Ferne radikale Lösungen zu
fordern und sich selbst dabei gut aussehen zu lassen.
## Ich traue ihnen nicht
Vor allem traue ich den Vielsprecher:innen in Deutschland nicht, weil
Antisemitismus hier am liebsten dann zum Thema gemacht wird, wenn man ihn
an Abschiebungen knüpfen kann. Schon erstaunlich, wie wenige
Gedankensprünge es braucht, um von einem Krieg in 4.000 Kilometer
Entfernung zur Frage zu gelangen, wen man hier rauswerfen könnte und wie.
Noch leichter werden Palästinenser:innen zu ewigen
Unruhestifter:innen, die ihren Kindern nichts als Hass predigen.
Hauptsache, alles so wie immer.
Wie sehr interessieren sich diejenigen, die sich hierzulande schnell und
laut positionieren, zum Beispiel dafür, dass die extreme Rechte in Israel
immer stärker wird? Wie sehr für die politische Kritik linker Jüdinnen und
Juden? Für die Rechte von Palästinenser:innen, wenn sie nicht von Israelis,
sondern der Hamas beschnitten werden?
Ich bin keine Expertin, ich versuche zu lernen und habe das Gefühl, der
deutsche Diskurs hilft mir nicht dabei. Wir prallen gegen unsere
Projektionen. „Unsere“ – ich weiß gar nicht, ob es meine sind. Und das, was
die wirklich Betroffenen schreiben, denken und fühlen, kommt hier kaum an.
Ich könnte meinen Enkelkindern antworten: Ich war damals, als die Gewalt
zwischen Israelis und Palästinenser:innen wieder eskalierte,
Journalistin bei einer Zeitung. Ich habe versucht, Menschen für diese
Zeitung schreiben zu lassen, die etwas Neues beitragen können, die sonst
vielleicht eher nicht gehört werden.
Das habe ich wirklich. Ich schrieb befreundeten Autor:innen aus Israel
und den palästinensischen Gebieten. Wie geht es dir? Willst du was
schreiben? Eine antwortete, sobald sie in der Lage sei, würde sie sich
melden. Sie hatte gerade ihre Cousine und deren Familie in Gaza-Stadt
verloren. Ein anderer glaubt, was er zu sagen habe, würde eine deutsche
Zeitung nicht drucken. Eine Dritte, sie lebt in Berlin, schrieb, sie habe
schon lange aufgehört, sich öffentlich zu diesem Thema zu äußern, sie wolle
ihre Karriere nicht gefährden.
Niemand ist uns seine Geschichte schuldig. Aber ich glaube, wir sind es den
Menschen im Nahen Osten schuldig, genauer hinzuhören, wer zu diesem Thema
spricht und wer nicht. Und woher dieses traurige Schweigen kommt.
29 May 2021
## LINKS
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## AUTOREN
DIR Viktoria Morasch
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