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       # taz.de -- Kolumne Frau ohne Menstruationshintergrund: Bitte die ESC-Taste drücken
       
       > Kolumnistin Michaela Dudley empfiehlt den Deutschen, sich beim European
       > Song Contest ein Beispiel an den Italiener*innen zu nehmen.
       
   IMG Bild: Atem- und erfolglos durch den ESC: Jendrik (2. von rechts) performte für Deutschland
       
       Das deutsche Fiasko in Rotterdam ist schon eine Woche her, aber die als
       Aufarbeitung geltende Phase von Beschimpfungen und Schuldzuweisungen dauert
       an. Dabei entbehrt es nicht einer gewissen Ironie, dass ein sympathisch
       aussehender Junge es mit dem Titel “I don’t feel Hate“ schaffte, soviel
       Missgunst auf sich zu ziehen. Es geht um Jendrik aus der NDR-Heimatstadt.
       Jendrik ist ja ein Hamburger, wenn auch mit Käse, und jeder will seinen
       Senf dazu geben. Der 26-Jährige ist immerhin erhobenen Hauptes auf die
       Bühne gegangen, und zwar im pinkfarbenen Blazer und mit seinen
       Playback-Bläser*innen, von der fuß- und fingerfertigen Begleittänzerin noch
       zu schweigen. Souverän war der Auftritt allerdings nicht. Eher Souterrain.
       
       Elf dürre Jahre nach Lena Meyer-Landruts Höhenflug mit “Satellite“ sind
       Deutschlands Hoffnungen auf einen Triumph beim Eurovision Song Contest
       wieder bitterböse abgestürzt. Was für eine Blamage ausgerechnet für einen
       der Big-Five-Geldgeber. Deutschland hat sogar über Jahrhunderte hinweg
       musikalische Maßstäbe gesetzt und lauter Genies hervorgebracht: Bach,
       Beethoven, Brahms, Bohlen.
       
       Hat der lange Lulatsch mit der Hawaii-Gitarre dem hohen Erwartungsdruck
       einfach nicht standgehalten? Vielleicht hätte man nicht ihn durchwinken
       sollen, sondern lieber den anderen Kerl, der gerne an der Ukulele zupft.
       Raab-Überfall gefällig? Eventuell brauchen wir wieder einen Siegel für den
       Sieg oder wenigstens für ein bisschen Frieden. Wäre es Majestätsbeleidigung
       gewesen, wenn eine Lektorin die Grammatikfehler des englischsprachigen
       Liedtextes korrigiert hätte?
       
       Die Antwort auf diese Misere in Moll finden wir auf dem Keyboard. Oder auch
       auf der Tastatur eines jeden Rechners, ganz oben links. Einfach auf “ESC“
       drücken und aus dem Eurovision Song Contest aussteigen. Zumindest
       vorläufig.
       
       Während der 65 Jahre langen Geschichte des Wettbewerbes, den man
       ursprünglich als Grand Prix Eurovision de la Chanson bezeichnete, hat
       selbst das diesjährige Siegerland Italien seine Teilnahme etliche Male
       ausgesetzt. Ab 1998 bemühten sich die Italiener*innen sogar zwölf Jahre
       nicht einmal darum, dabei zu sein. Erst 2011 meldete sich Bella Italia mit
       Raphael Gualazzi zurück, und gleich erreichte der singende Jazzpianist den
       zweiten Platz in Düsseldorf. Einige Monate zuvor hatte er als Newcomer in
       Sanremo gesiegt.
       
       Das jährliche Sanremo-Festival, eine fulminante fünftägige Mischung aus
       Volksfest und Volksentscheid, ist ein Straßenfeger wie man sonst nur bei
       der Fußball-WM mit der Squadra Azzurra im Finale kennt. Der 1958er
       Sanremo-Sieger, ein gewisser Domenico Modugno, wurde weltbekannt. Auch wenn
       er mit “Volare“ nur den dritten Platz beim ESC 1958 erlangte, gewann er
       damit wenig später den allerersten Grammy, der verliehen wurde. Für viele
       Italiener*innen ist der ESC also nicht das Ahhh und Ohhh der
       Musikszene, sondern eine nette Exkursion, eine Art Ehrenrunde nach Sanremo.
       Gerade mit dieser entspannten Haltung schneidet Italien gut ab, seit 2011
       acht Platzierungen in der Top-Ten-Liste.
       
       ## Durchhalteparolen wie aus Pjöngjang
       
       Allerdings scheint Deutschland nicht dazu bereit, sich eine Auszeit vom ESC
       zu gönnen, geschweige denn, dass es ernsthaft in Frage käme, eine
       bundesrepublikanische Variante von Sanremo aus dem Boden zu stampfen. Seit
       zu langem steht der NDR auf der Kommandobrücke, was die deutsche
       ESC-Teilnahme betrifft. Man hat den Eisberg längst gerammt, es gibt starke
       Schlagseite. Aber lediglich ein paar Deckstühle werden hin und her gerückt,
       und alldieweil soll die Kapelle weiterhin spielen. Beratungsresistenz und
       Durchhalteparolen wie aus Pjöngjang.
       
       Harte Worte, ich weiß. Aber ich betrachte die Sache nicht nur als Musikfan,
       sondern auch in meiner Eigenschaft als Performerin. Im August 2020 sang ich
       beispielsweise meine Ballade “Owed to Marsha“ in der 3Sat-Sendung
       “Kulturzeit“. Zwar nicht live im Wettbewerb vor einem Millionenpublikum,
       aber immerhin vor 200.000 Zuschauenden bei der Erstausstrahlung. A capella
       und ohne Akrobatik.
       
       Aber Jendrik? Vor lauter Gymnastik keuchte der junge Kerl, als wollte er
       sich für eine höhere Priorisierung in der Corona-Impfreihenfolge
       qualifizieren. Er hätte genauso gut “Atemlos durch die Nacht“ covern
       können. Dass er sein offizielles Video in einem Waschsalon drehte,
       überrascht auch nicht. Denn “I don’t feel Hate“ ist eine Weichspülung der
       lebensbedrohlichen Antipathien, denen viele von uns, auch Jendrik selbst,
       auf Grund des Andersseins ausgesetzt sind. Im Angesichts des Hasses sollten
       wir die andere Wange hinhalten?
       
       Die italienische Band Måneskin dagegen erteilte der Bigotterie mit “Zitti e
       Buoni“ (“Leise und Brav“) eine zornige Absage. Wut zur Wahrheit statt
       Gute-Laune-Strophen. Der Song, der zum “Gossenhauer“ wird, brachte den
       genderfluiden Glamrocker*innen den verdienten Sieg. Überdies ist eine
       weitere Angelegenheit geklärt: Der freiwillige Drogentest des Leadsängers
       Damiano David ist negativ ausgefallen. Die Koksvorwürfe sind also Schnee
       von gestern, und Italien bleibt mit insgesamt 524 Punkten mehr als eine
       Nase voraus.
       
       29 May 2021
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Michaela Dudley
       
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