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       # taz.de -- Comics zum Klimawandel: Alte Dämonen, schöne neue Welten
       
       > Neue Comics von Cadène/Adam und Prado setzen sich mit dem Thema
       > Klimawandel auseinander. Sogar die Coronapandemie wird antizipiert.
       
   IMG Bild: Klimapolitik und Magie: Miguelanxo Prados Comic „Die Lethargie“
       
       Ist die Menschheit angezählt? Stirbt der Planet? Auch in der grafischen
       Literatur mehren sich die Anzeichen, dass auf der Erde etwas im Argen
       liegt. Vom Mainstream („Trees“, von Warren Ellis/Jason Howard) bis hin zum
       Autoren- und Independentcomic ([1][Zep, „The End“] und „Yellowstone“ von
       Philipp Spreckels/David Scheffel-Runte) befassen sich immer mehr Comics mit
       Untergangsszenarien, den Auswirkungen des Klimawandels, Naturkatastrophen
       und Postapokalypsen.
       
       Zwei aktuelle europäische Graphic Novels bedienen sich der Science-Fiction-
       und Fantasygenres auf innovative Weise und kritisieren dabei die
       Rücksichtslosigkeit der menschlichen Spezies gegenüber ihrem Planeten.
       
       So entwirft der französische Comicautor Thomas Cadène, Jahrgang 1976, für
       die Graphic Novel „Soon“ zusammen mit Co-Autor und Zeichner Benjamin Adam
       (geboren 1983) ein aufwändiges Zukunftsszenario, das die Folgen des
       Klimawandels antizipiert und zugleich Lösungen anbietet.
       
       Im Jahr 2151 hat die Menschheit eine Vielzahl globaler Verwerfungen hinter
       sich: Naturkatastrophen wie die „Große Kontamination“ von 2040, eine Serie
       verheerender Stürme in den USA und einen die ganze Erde infizierenden
       „Grippeviruskonflikt“ mit anschließender Impfstoffkrise (das Buch erschien
       im französischen Original bereits 2019).
       
       Ein „Menschenfreier Krieg“ fand schon Mitte des 21. Jahrhunderts statt, dem
       die „Große Neuordnung“ folgte. Die Erdbevölkerung schrumpfte auf 800
       Millionen und wurde auf sieben neue Städte verteilt, um der Natur wieder
       Raum zu geben: Die verwilderte, menschenfreie Zone 1 nimmt danach 88
       Prozent der Landflächen ein. So wird das klimatische Gleichgewicht
       wiederhergestellt, während die Menschen auf nachhaltige Weise weiterzuleben
       versuchen.
       
       ## Ein kompletter Neustart ist notwendig
       
       Die hier dargestellte Zukunft einer „Schönen neuen Welt“ kann sowohl als
       Utopie wie als Dystopie gedeutet werden: Von einstigen Städten und Kulturen
       ist nichts mehr übrig, ein kompletter Neustart scheint notwendig. Im
       Zentrum der Graphic Novel steht der junge Erwachsene Juri und die Beziehung
       zu seiner Mutter Simone, die Chefastronautin des umstrittenen
       Raumfahrtprogramms „Soon 2“ ist. Nach der Mondmission von „Soon 1“ soll
       diesmal ein in einer fernen Galaxie befindlicher Planet angesteuert werden,
       um neue, von Menschen bewohnte Kolonien anzusiedeln.
       
       Simone ordnet ihre Mutterrolle der beruflichen Mission unter: Juri muss
       damit klarkommen, dass er seine ins All aufbrechende Mutter nie mehr
       wiedersehen kann. Auf einer gemeinsamen Reise durch verschiedene Zonen will
       Simone nochmals Zeit mit Juri verbringen. Der geht jedoch lieber allein auf
       Entdeckungstour. Cadène und Adam gelingt ein durchaus glaubwürdiges
       Planspiel, das zwischen dem an Juri orientierten Erzählstrang und dem
       „wissenschaftlich-historischen“ Teil pendelt.
       
       Letzterer erläutert die komplexen Ereignisketten bis 2150 in Form von
       Referaten Simones und anderer Beteiligter des Raumfahrtprogramms. Dabei
       experimentiert Zeichner Benjamin Adam mit den Möglichkeiten grafischer
       Seitenaufteilung, was zuweilen an Infografiken erinnert. Erzählerisch
       gelungener ist allerdings der Strang, der sich Juri und Simone widmet. Im
       referierenden Teil überfrachten Cadène und Adam das Buch etwas.
       
       Die sich oft in winzige Zeichnungen aufsplittenden Seitenlayouts verlieren
       sich dann ebenso in nebensächlichen Details wie die Vorträge in endlosen
       Erklärungen. Das macht die Lektüre anstrengend. Weiterer Schwachpunkt der
       Zukunftsvision sind Adams’ zu schlicht gezeichnete, ausdrucksschwache
       Figuren, die in den schummrig beleuchteten, dreifarbig angelegten
       Hintergründen oft zu verschwinden drohen.
       
       ## Lebendige Figuren
       
       Dementgegen ist [2][Miguelanxo Prado] ein Meister der differenzierten
       Charakterzeichnung, seine Figuren wirken geradezu lebendig. Der 1958 im
       galicischen La Coruña geborene Zeichner ist seit Jahrzehnten ein Fixstern
       der spanischen Comicszene und pflegt einen zeitlos modernen Zeichenstil.
       Als Erzähler überschreitet er in seinen Werken gerne allzu starre
       Genregrenzen (zuletzt 2018 in „Leichte Beute“).
       
       In seinem neuesten Werk „Die Lethargie“ kombiniert er das Fantasy-Genre mit
       einem realistischen, sehr alltäglichen Hintergrund, um grundlegende
       Verfehlungen der Spezies Mensch anzuprangern. Die Story beginnt zunächst
       betont harmlos nahe einer nordspanischen Kleinstadt. In einem Eichenwald
       finden Kinder seltsame Schriftzeichen, die der junge Archäologe Artur als
       keltische Runen identifiziert.
       
       Gleichzeitig erwachen, unbemerkt von den Menschen, an verschiedenen Orten
       magische Wesen zum Leben, die sich seit Urzeiten in einer „Lethargie“
       befanden, einem Tiefschlaf, der eigentlich erst enden sollte, wenn die
       Menschen die Harmonie mit Gaia, der Erde, wiederhergestellt haben. Um
       weitere von ihresgleichen aufzuwecken, benötigen diese „Magier“ – die
       zwischen „Dämonen“ und „Reinen“ unterscheiden – eine verschwundene
       Triskele, ein Amulett mit den Orten der Gräber. Doch erfahren auch einige
       zwielichtige, ein lukratives Geschäft witternde Charaktere davon.
       
       Von der Fee Aurea und einem ehemaligen Professor bekommt
       Archäologie-Doktorand Artur die nötigen Informationen über die einstigen
       Machtverhältnisse, als Magier und Menschen noch in Eintracht lebten. Doch
       der mächtige Dämon Xamain will die Triskele benutzen, um die ihm verhassten
       „eingebildeten Primaten“ endgültig zu vernichten. Miguelanxo Prados
       Prämisse ähnelt der von Cadène und Adam: Durch Ressourcenausbeutung, Gier
       und Selbstüberschätzung setzt die Menschheit ihre Existenz und die Zukunft
       des blauen Planeten aufs Spiel.
       
       Die vom Zeichner erdachte mythische Vorgeschichte ist in sich stimmig und
       erinnert in Teilen an Fantasyklassiker wie J. R. R. Tolkiens „Herr der
       Ringe“, wird aber auf wenigen Seiten knapp abgehandelt. Mehr interessiert
       Prado die Gegenwart: In dem namenlosen spanischen Nest entscheidet sich
       nichts weniger als das Schicksal der ganzen Menschheit. Gelingt es Artur
       und seinen magischen Verbündeten, an die Triskele zu gelangen? Oder wird
       der gar nicht so böse, aber von den Menschen enttäuschte Dämon Xamain sein
       Ziel erreichen?
       
       ## Karikierende Darstellung
       
       Akzente setzt Prado mit der karikierenden Darstellung unterschiedlicher
       Milieus: Hier die würdevollen Magier mit ihrer altertümlichen Sprache, die
       in einem an Runen erinnernden Schriftbild visualisiert wird; dort
       überheblich-korrupte Akademiker wie Arturs Fachbereichsleiter Figueiras,
       der seinen Vorgänger betrogen und bestohlen hat. An dessen Seite: der
       blasierte Adelige Faustino (!) Traba, der von alten feudalen Zeiten träumt
       und sich dafür allzu gerne Satan andienen möchte.
       
       Prado zieht im Laufe seiner brillant konstruierten wie vor spitzfindigen
       Dialogen sprühenden Graphic Novel den Spannungsbogen deutlich an und rührt
       noch einige schräge Krimielemente in seinen Genrecocktail mit ein. Seine
       abgründigen und zugleich liebevoll erdachten Figuren zeichnet er mit feinen
       Tuschelinien, mittels Aquarell und Pastellkreide erzielt er subtile
       Farbakzente. „Die Lethargie“ bildet den vielversprechenden Auftakt zu einer
       neuen Trilogie, bei der jeder Band eine in sich abgeschlossene Geschichte
       erzählen wird.
       
       Während Thomas Cadène und Benjamin Adam ein streng rationales, kühnes
       Zukunftsszenario geschaffen haben, überzeugt Miguelanxo Prado mit der
       satirischen und grafisch sinnlichen Darstellung einer dekadenten
       Gegenwartsgesellschaft im Fantasy-Gewand. Trotz mancher Schwächen lohnen
       die Lektüren beider Graphic Novels, vermeiden sie doch die üblichen
       Genre-Klischees und bieten jeweils interessante, kritische Perspektiven auf
       die Ära des Anthropozäns.
       
       2 Jun 2021
       
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