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       # taz.de -- Jubiläumsfeiern für Ton Steine Scherben: Liebe, Tod und Umbenennung
       
       > Berlin gedenkt der Agitrocker Ton Steine Scherben und des Frontmanns Rio
       > Reiser. Zum 50. Jubiläum gibt es in der Hauptstadt Ausstellungen und
       > Konzerte.
       
   IMG Bild: Gute Slogans, gute Anverwandlungen: Rio Reiser, Sänger und Gitarrist von Ton Steine Scherben
       
       „Ja, sie geben Geld / Doch sie verlangen auch etwas dafür / Und wenn Du
       Pech hast / Ist es dein Leben“, diese vier lakonischen Zeilen stehen fast
       am Ende eines der weniger bekannten Alben der Westberliner Agitrockband Ton
       Steine Scherben: „Paranoia“ heißt das Album und ist 1976 in Zusammenarbeit
       mit dem Münchner Theaterkollektiv Rote Rübe entstanden.
       
       Eine sinnfällige Kombination, damals beim [1][bayerischen Anarcho-Label
       Trikont] erschienenen. Die im Eigenlabel David Volksmund Produktion
       gepressten Scherben-Alben waren fester Programmteil in den Regalen linker
       westdeutscher Buchläden. Die erneute Zusammenarbeit von Scherben und Rübe
       war die Show „Liebe, Tod, Hysterie – ein Zirkus“, mit der 1977, im
       Deutschen Herbst, das erste „Internationale Festival des Freien Theaters“
       in München eröffnet wurde. Mit der Kamera dabei war die
       Subkultur-Fotografin Ilse Ruppert, und ihre Fotos eröffnen am heutigen
       Freitag in der Berlin-Kreuzberger Galerie ZeitZone einen wahren Ton Steine
       Scherben-Festivitäten-Marathon.
       
       Anlass ist das 50. Bandjubiläum und die Nachfeier des 70. Geburtstags von
       Sänger, Haupttexter und Gitarrist Ralph Christian Möbius alias [2][Rio
       Reiser]. „Wenn die Nacht am tiefsten“ heißt das Festival nach einem der
       bekanntesten Scherben-Songs, zum opulenten Programm gehören Kinoabende, ein
       Podiumsgespräch, mit dem Popwissenschaftlichen Quartett ein akademisches
       Symposion, zwei Jubiläumskonzerte, eine Demo-Performance, ein literarischer
       Frühschoppen, Stadtspaziergänge, eine Dampferfahrt und eine Umbenennung: Am
       12. Juni wird der Heinrichplatz in Kreuzberg 36 zum Rio-Reiser-Platz.
       
       Ton Steine Scherben, die [3][„Erfinder Kreuzbergs“,] übernehmen Berlin.
       Grundsätzlich keine schlechte Idee, dennoch ist es eine schöne Volte, dass
       Ilse Rupperts 23 Fotos kein einziges Scherben-Mitglied zeigen. Bei „Liebe,
       Tod, Hysterie“ lief die Musik von Rio Reiser und Scherben-Mitbegründer
       Ralph Peter Steitz alias R. P. S. Lanrue als Playback. „Wir müssen hier
       raus“ ist einer der bekanntesten Songs von Ton Steine Scherben, er eröffnet
       das Doppelalbum, mit der die Band Geschichte geschrieben hat, das 1972
       erschienene, vom Cover her „weiße“ Album „Keine Macht für Niemand“.
       
       ## „Warum geht es mir so dreckig?“
       
       Es entbehrt nicht der Ironie, wenn ausgerechnet beim Schreiben dieses
       Textes eine E-Mail mit dem Werbeslogan „Alles muss raus“ eingeht, mit der
       ein ungenanntes Unternehmen seine Regale freizukriegen versucht. „Wir
       müssen hier raus“ ist auch Titel eines Buches, von [4][Wolfgang Seidel],
       erster Schlagzeuger von Ton Steine Scherben, 2016 veröffentlicht.
       
       In ihm geht es um die Zeit und das Lebensgefühl, aus dem Ton Steine
       Scherben kamen, es geht um die alte Bundesrepublik und um den als deutsch
       vermarkteten Krautrock, dem dieses Etikett eher an der Hutschnur
       vorbeiging. 2020 hat Seidel ein weiteres Buch herausgegeben: „Scherben.
       Musik, Politik und Wirkung der Ton Steine Scherben“. 250 Seiten, die sich
       als Lektüre und kleine Kurskorrektur empfehlen, wenn man dieser Tage noch
       einmal die Musik hört.
       
       „Warum geht es mir so dreckig?“, das Debütalbum von Ton Steine Scherben,
       erschien im September 1971. Es stimmt, ein Rockalbum wie dieses hatte es
       vorher nicht gegeben. Songtitel und Texte, die Häuserwände zitierten und
       selbst zu Slogans wurden: „Ich will nicht werden was mein Alter ist“, „Der
       Kampf geht weiter“ und natürlich „Macht kaputt was euch kaputt macht“, die
       erste Single der Scherben. Das ist die A-Seite des Albums mit den
       legendären Liveaufnahmen und dem „Einheitsfrontlied“ von Brecht und Eisler,
       eine Coverversion, mit der sich die Scherben in die Tradition des
       progressiven Lieds stellten.
       
       Speziell auf dieser ersten Albumhälfte geschehen musikalisch umwerfende
       Dinge: dramaturgisch kühne Gitarrenläufe, ein swingendes Rockschlagzeug,
       die [5][Wucht der Wiederholung]. In den Texten allerdings deutet sich eine
       gewisse Parolenschwere an, die den Scherben nicht immer guttat: „Sie nehmen
       uns aus / Sie schmeißen uns raus / Sie tun nichts für uns / Doch sie leben
       von uns!“ So radikal, so gut. Ton Steine Scherben waren die Band der
       Lehrlingsbewegung und der Hausbesetzer:Innen, drei Jahre nach 1968.
       
       Dann aber heißt es: „Sie nennen uns ihre Sklaven / Und wenn wir kämpfen /
       Werden sie uns jagen // Denn sie wissen / Der Kampf geht weiter / Und sie
       wissen/Die Wahrheit wird siegen!“
       
       ## Als der Blues nach Westberlin kam
       
       Wenn sie danach mal nicht zementiert werden muss, möchte man anfügen. Auf
       die Prominenz der Ausrufezeichen in dieser Scherben-Phase weist der Autor
       Hartwig Vens hin, wenn er in Seidels Buch die Sprache der Band unter die
       Lupe nimmt und einen Zug zu Vereinfachung und Volkstümeln bemerkt. „Wir
       brauchen keine Ästhetik; unsere Ästhetik ist die politische Effektivität“,
       postulierten die Scherben mit Semikolon. Sie sollten es nicht dabei
       belassen. Besser so.
       
       Es gibt in der Scherben-Geschichtsschreibung einen oft beschriebenen Bruch:
       Da sind einmal die ‚politischen‘ Alben, „Warum geht es mir so dreckig?“ und
       „Keine Macht für niemand“, danach die ‚melancholischeren‘ und
       „ausgefeilteren“Alben, ab 1975, als die Scherben Westberlin verließen, ins
       schleswig-holsteinische Fresenhagen zogen und das Doppel-Album „Wenn die
       Nacht am tiefsten …“ veröffentlichten. Dabei kann das Werk als
       Fortschreibung von „Keine Macht für niemand“ im doppelten Sinne gehört
       werden. Ein Stück wie „Nimm den Hammer“ beispielsweise knüpft an den „Paul
       Panzer Blues“ von 1973 an, schenkt sich aber das ranzig Mackerhafte und hat
       stattdessen Funk und ein nicht zu sparsames Drumsolo.
       
       Einen deutlichen Unterschied markierte das 1981 erschienene, vom Cover her
       „schwarze“ Album „IV“. Auf der dritten Doppel-LP in Folge manövrierten die
       Scherben zwischen Punk und Folk und spielten so ihre eigene Version von New
       Wave. Das mithilfe von Tarotkarten entstandene Album hat seine Fans und
       Skeptiker.
       
       Vom fragwürdigen Sound einmal abgesehen, enthält „IV“ einige der
       experimentelleren Songs der Band: „Jenseits von Eden“ mit seinem
       collagehaft wirkenden, dabei dezidiert politischen Text – „Schütze uns vor
       Gestern / Eins neun dreiunddreißig / In 3D und Farbe / Dann ist Sendepause“
       und „Liebe kommt von unten / Liebe hat schwache Worte“, ja, auch das – und
       Wolfgang Seidel am Vibrafon. Oder „Vorübergehend geschlossen“, ein komplett
       aberwitziges Stück, das sich fast auf einem Pere-Ubu-Album verorten ließe.
       Kommerziell brachte das der Band wenig ein, die Scherben machten Schulden,
       ihr fünftes Album klang vergleichsweise konventionell und setzte 1983 mit
       dem Titel „Scherben“ den Schlusspunkt.
       
       ## Anarchisten unterwandern die FDJ
       
       Rio Reiser begab sich auf eine Solokarriere, die ihm mit „König von
       Deutschland“ und „Junimond“ seine größten Hits bescherte, ihn schuldenfrei
       machte. 1988 trat er in der Ostberliner Werner-Seelenbinder-Halle auf.
       Welche Bedeutung die Scherben und Reiser bereits zuvor in der DDR hatten,
       davon erzählt in Seidels Buch André Greiner-Pol von der Bluespunk-Band
       Freygang. Zu dem Konzert sei an dieser Stelle noch erwähnt, dass im
       Zuschauersaal eine schwarz-rote Anarchiefahne wehte. Das dürfte auf einer
       offiziellen FDJ-Veranstaltung ein Novum gewesen sein.
       
       Als Reiser 1996 starb, spielten beim Abschiedskonzert etwa die
       Einstürzenden Neubauten (Westberlin) und die Linkssentimentalen
       Transportarbeiterfreunde (Ostberlin). Auf einer Bühne! Das hatte es vorher
       nicht gegeben und ist auch nicht wieder vorgekommen. Postum sind Alben mit
       Archivaufnahmen erschienen: „Am Piano I & II“, auf denen Reiser zu
       Klavierbegleitung singt und Songs aus fremder Feder zu seinen macht.
       
       Die Auswahl beweist enorme Offenheit, von Marlene Dietrich bis
       [6][Kajagoogoo], von Volkslied bis Hollywood. Wolfgang Seidel hat die
       Scherben früh verlassen, blieb ihnen aber eng verbunden. 2020 trat er in
       Weißensee auf, im Jazz-Schuppen Kühlspot Social Club mit einem
       Streichquartett. Seidel spielt seit Jahrzehnten experimentell, er hat mit
       dem Komponisten Conrad Schnitzler bis zu dessen Tod 2011 gearbeitet und
       Alben mit dem Jazzer Alfred Harth veröffentlicht. In ihrer faszinierenden
       Klangästhetik ist es diese Musik, die noch einmal die Frage aufwirft, ob
       Protest des Zeigefingers bedarf.
       
       4 Jun 2021
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Trikont-Macher-ueber-ihr-Label/!5459138
   DIR [2] /Gedenktafel-fuer-Rio-Reiser/!5060873
   DIR [3] /Die-Erfindung-Kreuzbergs/!1568418/
   DIR [4] /Der-Instant-Komponist/!5247801/
   DIR [5] /Tagebuchnotizen-von-Rio-Reiser/!5317116
   DIR [6] https://www.youtube.com/watch?v=rkpG4XApJ28
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Robert Mießner
       
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