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       # taz.de -- Symposium über Kieler Pavillonschulen: Lernen bei Licht und Frischluft
       
       > Mit seinen Pavillonschulen verwirklichte der Kieler Baudirektor Rudolf
       > Schroeder eine moderne, pädagogisch innovative Architektur.
       
   IMG Bild: Erbaut 1948–51: Die Goetheschule in der Kieler Hansastraße
       
       Hamburg taz | „Sorge um den Bestand“ heißt eine Ausstellung in der Berliner
       Zentrale des Bundes Deutscher Architektinnen und Architekten (BDA): Anhand
       von zehn Thesen fächert sie ein „kreatives Unterlassen“ als „Sorgetragen
       für den Gebäudebestand“ auf, „für gewachsene soziale Strukturen“ und gar
       „den [1][Fortbestand der Erde]“. Im Anspruch vermessen, ist, was das Bauen
       betrifft, die Position kein bloßes Lippenbekenntnis: Bereits auf seinem
       2018 in Hamburg abgehaltenen, jährlichen BDA-Tag hatte der Berufsverband in
       einem Grundsatzbeschluss festgehalten: „Jedes Bauen ist Bauen im Bestand.“
       Und: „Jeder Neubau muss seine unabdingbare Notwendigkeit unter Beweis
       stellen.“
       
       Grund zu ernsthafter Sorge hat derzeit der Schleswig-Holsteinische
       BDA-Landesverband, kürzlich Mitveranstalter eines dreitägigen
       Online-Symposions des Kunsthistorischen Instituts der Kieler
       Christian-Albrechts-Universität. Unter dem Thema: [2][„Licht, Luft und eine
       neue Pädagogik“] lud Institutsdirektor Klaus Gereon Beuckers zum
       internationalen Erfahrungsaustausch über die Kieler Pavillonschulen und
       überhaupt Schulbautheorien der 1920er- bis 1950er-Jahre.
       
       Wie viele Errungenschaften der neueren Baugeschichte reagierte auch der
       Typus Pavillonschule auf hygienische und gesundheitliche Missstände des
       späten 19. Jahrhunderts. Im simpelsten Fall als eine im Grünen freistehende
       Holzbaracke, mit großem Austritt ins Freie, rundum durchfenstert und
       dadurch gut zu durchlüften, sollte der damaligen „Volksgeißel“ Tuberkulose
       begegnet werden. Freikörper-, Turn- oder Wandervogelbewegung der
       Jahrhundertwende sowie eine Reformpädagogik, die erstmals die
       körperlich-geistige Entwicklung des Kindes in den Mittelpunkt stellte,
       bildeten ein ideelles Bezugssystem, das ab den Zwischenkriegsjahren [3][in
       vielen europäischen Ländern] zu phantasievollen bis utopischen
       Konkretisierungen im Zusammenspiel von Architektur und Natur fand.
       
       Die Kieler Pavillonschulen entstanden nach dem Zweiten Weltkrieg, zwischen
       1948 und 1964, unter der Ägide des Kieler Hochbauamtsarchitekten – sowie ab
       1951 Magistratsbaudirektors – [4][Rudolf Schroeder (1897–1965)]. Es gibt
       davon 23, als Grund- wie weiterführende Schulen, in denen, so heißt es,
       jede:r lebende Kieler:in zumindest einen Teil der Schulzeit verbracht
       haben soll. In der Mehrzahl waren sie neue Standorte, nur fünf ersetzen
       oder ergänzten kriegszerstörte Vorgängeranlagen; 13 von ihnen stehen
       mittlerweile unter Denkmalschutz.
       
       Weitgehend authentisch erhalten, stellt das Kieler Baukonvolut ein auch
       international wohl einzigartiges lokales Konzentrat dieses Schultypus dar,
       das die Konzepte des frühen 20. Jahrhunderts in einer sparsamen, regional
       geprägten Nachkriegsästhetik aus handwerklichem Sichtmauerwerk
       reaktivierte: Kammartig addierte, eingeschossige Zeilen, erschlossen durch
       lediglich gedeckte Laufgänge, koppeln jeweils wenige Stammklassen, die
       gedacht sind für den mehrjährigen Verbleib der Schüler:innen, zu einer
       Gemeinschaft.
       
       Die quadratischen Klassenräume sind zweiseitig belichtetet und quer zu
       durchlüften. Eigens entwickeltes, leichtes Mobiliar lässt sich zu
       wechselnden Unterrichtssituationen flexibel arrangieren oder hinaus tragen
       in die gärtnerisch gestalteten Freiluftklassen. Mehrgeschossige Baukörper,
       etwa für Fachräume, turmartige Bauakzente sowie Höfe und Schulgärten
       vervollständigen das jeweils spezifische Bauprogramm in landschaftlich
       komponierten, individuellen Anlagen.
       
       ## Sinnbild demokratischer Gesellschaft
       
       Hatte die britische Besatzungsadministration die schulische
       Allgemeinbildung gegen totalitäre Systeme jeglicher Couleur in Stellung
       gebracht, so wurden die Kieler Pavillonlösungen Sinnbild einer
       demokratischen Gesellschaft, bedacht aufs Wohl ihrer Kinder in einer
       modernen Lernatmosphäre. Kurzum: In Kiel existiert ein in seiner Gesamtheit
       erhaltungswürdiger, in der Bausubstanz wohl auch erhaltungs- und
       entwicklungsfähiger, architektur- wie bildungsgeschichtlich bedeutender
       Baubestand.
       
       Allerdings nicht in den Augen der lokalen Politik: Ein
       [5][interfraktioneller Antrag] beauftragte im September 2020 die städtische
       Verwaltung, mit der zuständigen Denkmalschutzbehörde „einen größeren
       Handlungsspielraum beim Umgang mit den sog. Schröder-Schulen [sic] zu
       erwirken“, und „ggf. nur eine oder wenige Schröderbauten als
       baugeschichtlichen Erinnerungsort zu erhalten, während ein Großteil der
       Schröderbauten basierend auf den Grundsätzen moderner Pädagogik frei
       umgestaltet werden können“. Es sei dringend erforderlich, hieß es weiter,
       über Lösungen zu diskutieren, die das Kinder- und Schüler*innenwohl
       stärker in den Fokus rücken.
       
       Vorausgegangen war die Ad-hoc-Räumung eines Schroeder’schen Baudenkmals:
       der Friedrich-Junge-Grund- und Gemeinschaftsschule von 1961. Bei
       Sanierungsvorbereitungen traten Schäden im Dachtragwerk der Pavillonzeilen
       zutage, die deren Standsicherheit in Frage stellten. Aber ist nicht der
       Bauunterhalt, die kontinuierliche Pflege und wertsichernde Instandhaltung
       kommunaler Gebäude eine Kernaufgabe von Politik und Verwaltung? Haben sich
       die zitierten Antragsstellenden nicht lediglich ihre eigene Untätigkeit
       attestiert? Hätten einem Sanierungs- und Investitionsstau, wie er nach über
       60 Jahren Nutzung nun aufgelaufen ist und bereits durch ein
       denkmalpflegerisches Gutachten bestätigt wurde, nicht rechtzeitig begegnet
       gehört? Und was ist unter „modernen pädagogischen Konzepten“ zu verstehen,
       welche baulichen Bedingungen wären denn dafür nicht gegeben?
       
       ## Wichtige Impulse aus Kiel
       
       So wie andernorts, wird auch in Kiel von den Verantwortlichen schon lange
       nicht mehr qualifiziert über Fragen des Schulbaus nachgedacht: Floskeln wie
       Inklusion oder Digitalisierung reichen als Kompetenznachweis;
       Architekturleistungen werden nach bürokratischen Regeln vergeben, nicht
       aufgrund konzeptioneller Qualität.
       
       Dabei war der Schulbau ein baukulturell wichtiges Anliegen der Moderne, in
       den Nachkriegsjahren kamen gerade auch aus Kiel theoretische Impulse:
       Konferenz- und Ausstellungsbeiträge oder eine internationale Schulbautagung
       zur Kieler Woche 1952. Selbstredend hatte Schroeder 1951 auch am
       „Darmstädter Gespräch“ teilgenommen – Leitthema „Mensch und Raum“.
       Kontrovers und persönlich fast diffamierend wurde dort gestritten um die
       entwicklungsspezifisch gestalteten Klasseneinheiten von Hans Scharoun,
       seine „Schulschaften“: Sie wurden 1962 als Geschwister-Scholl-Schule in
       Lünen dann zum Glanzpunkt bundesdeutschen Schulbaus und überzeugen nach
       sanfter Modernisierung 2013 wohl noch jede:n Skeptiker:in vom zwar
       flächenintensiven, doch so organhaft humanen Typus Pavillonschule.
       
       Ist es an der Zeit, nach all den kompakt-einfallslosen Schulbaukisten der
       vergangenen Jahre – mit ihren kurzlebigen Wärmedämmverbundfassaden und
       energetisch optimiert nicht mehr zu öffnenden Fenstern, die Räume
       vollgestellt mit technischem Unsinn und „Lernlandschaften“ unter
       künstlicher Belichtung –, sich einfacher, luftiger, auch in pandemischen
       Krisen gebrauchstüchtiger Innen- und Außenraumkombinationen
       zurückzubesinnen?
       
       Der BDA Schleswig-Holstein jedenfalls lädt im August Studierende ein,
       [6][in einem Workshop] über eine Zukunft der Kieler Schroeder-Schulen
       nachzudenken. Die Ergebnisse stellen sich dann, in schöner Tradition,
       zusammen mit dem Tagungsband des Kunsthistorischen Instituts während der
       Kieler Woche 2022 der Diskussion.
       
       20 May 2021
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Klimafreundliche-Stadtentwicklung/!5711926
   DIR [2] https://www.kunstgeschichte.uni-kiel.de/de/institut/personen-sprechstunden/prof.-dr.-phil.-klaus-gereon-beuckers/licht-luft-und-eine-neue-paedagogik-die-kieler-pavillonschulen-und-der-schulbau-zwischen-den-1920er-und-1950er-jahren
   DIR [3] http://www.vs-furniture.ae/schulmuseum/de/
   DIR [4] https://www.schleswig-holstein.de/DE/Landesregierung/LD/Downloads/Wissen/DM2012_KielSchulen.pdf?__blob=publicationFile&v=2
   DIR [5] https://ratsinfo.kiel.de/bi/vo020.asp?VOLFDNR=21442
   DIR [6] https://www.kunstgeschichte.uni-kiel.de/de/termine-1/workshop-schulbauten-tagung
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Bettina Maria Brosowsky
       
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   DIR Sanierungsstau
       
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