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       # taz.de -- Kontroverse Videos von Mafiapaten: Schuld und Unterhaltung
       
       > Im Internet wirft der türkische Mafiapate Sedat Peker der Regierung
       > Korruption vor. Der Kultstatus der Videos ist Ausdruck der Verzweiflung
       > im Land.
       
   IMG Bild: Erhebt auf Youtube schwere Vorwürfe gegen Regierungsmitglieder: Sedat Peker
       
       Weil der türkische Mafiapate Sedat Peker mal wieder ein Youtube-Video
       veröffentlicht hat, saßen die Menschen in der Türkei am Sonntag schon
       frühmorgens an ihren Endgeräten. Peker ist der landesweit bekannte
       Kriminelle, über den internationale Medien, [1][darunter auch die taz],
       berichten. In seinen Videos erhebt er schwere Vorwürfe gegen ehemalige und
       gegenwärtige Regierungsmitglieder: Drogengeschäfte, Mord, Vergewaltigung,
       Verwicklungen in organisierte Kriminalität.
       
       Er beschuldigt unter anderem den aktuellen Innenminister Süleyman Soylu
       und den ehemaligen Innenminister Mehmet Ağar. [2][Die 8. Folge der
       Peker-Videos] von Sonntag hatte Montagvormittag schon über 10 Millionen
       Klicks. Diesmal geht es um mutmaßliche illegale Waffenlieferungen an die
       Dschihadisten der Al-Nusra-Front in Syrien 2015. Laut Peker, der angibt,
       selbst involviert gewesen zu sein, soll diese eine paramilitärische
       Organisation namens Sadat organisiert haben. Der Journalist Can Dündar
       hatte damals über Waffenlieferungen berichtet. Er wurde anschließend
       verurteilt und musste ins Ausland flüchten.
       
       Peker wirft den Namen Metin Kıratlı ein, ein hoher Verwaltungsbeamter im
       Präsidialamt, und verweist indirekt auf [3][Präsident Recep Tayyip
       Erdoğan]. Erstmals adressiert er ihn auch direkt: „In der nächsten Folge
       sprechen wir von Angesicht zu Angesicht.“ Peker spielt den Whistleblower,
       der nichts mehr zu verlieren hat. Dabei zeigen seine Videos, wie
       verzweifelt er versucht, mit jenen zu verhandeln, die er bedroht: den
       gleichermaßen verzweifelten Regierungspolitikern. Verzweifelt sind aber
       auch die Menschen, die seine Videos anschauen.
       
       Peker weiß genau, was die Millionen hören wollen. Er ist nicht nur
       Whistleblower, sondern auch Entertainer. Während sich seine Show dem
       Staffelfinale nähert, steigert er die Spannung, indem er Dinge nicht
       einfach verrät, sondern Andeutungen macht. Er nutzt Symbole: einen Kompass
       auf dem Hotelzimmertisch, einen Globus und Bücher im Bild. Er bemüht sich,
       Zuschauer:innen das Gefühl zu geben, dass er viel mehr weiß, als er
       erzählt. Seine Zuschauer:innen diskutieren nach jeder Folge
       konkurrierende Interpretationen. Dann warten sie gespannt auf die nächste
       Folge.
       
       ## Konzert der Verzweiflung
       
       Weil Ermittlungen gegen ihn laufen, lebt Peker seit eineinhalb Jahren im
       Ausland. Er gibt vor, die Videos zu veröffentlichen, weil die Polizei seine
       Frau und Kinder bei Razzien schlecht behandelt hätte. Vermutlich versucht
       er, seine Rückkehr in die Türkei zu erpressen. Peker, ein kräftig gebauter
       Mafiapate mit Botoxgesicht, sitzt in einem Hotel, angeblich in Dubai,
       spuckt wütend eine Drohung nach der anderen aus, die letzten Worte seiner
       Sätze brüllt er, seine Augen schießen dabei an die Decke, dann lacht er wie
       verrückt.
       
       Hinter der Rolle des furchtlosen Mafiapaten steckt aber Verzweiflung; die
       Verzweiflung eines Mannes, der Erdoğan, die AKP und die rechtsextreme MHP
       jahrelang unterstützt hat und nun nicht in die Türkei zurückkehren kann;
       Verzweiflung darüber, dass sein Schicksal immer noch von der Gunst eines
       Erdoğan abhängt. Peker ist mit diesem Gefühl aber nicht allein.
       
       Erdoğan ist auch verzweifelt: Wochenlang hat der Präsident aus Angst
       geschwiegen, dass es auch ihn treffen könnte, und hat sich dann doch hinter
       seinen Innenminister gestellt. Verzweifelt sind die Staatsanwälte, die
       keine Ermittlungen aufnehmen angesichts der schweren Vorwürfe.
       
       Verzweifelt ist eine türkische Opposition, die überfordert ist, wenn die
       schmutzige Wäsche des Regimes an die Öffentlichkeit gerät. Und groß ist die
       Verzweiflung bei den Menschen, die daran glauben wollen, dass diese Videos
       helfen könnten, die kriminelle Bande, die die Türkei in Geiselhaft hält,
       endlich zur Verantwortung zu ziehen. Dass sich in der Türkei vielleicht
       doch noch etwas verändert.
       
       ## Diese Show geht nie zu Ende
       
       Nur weil die Zuschauer:innen diese Verzweiflung beiseiteschieben können,
       konnte sich der Spannungsbogen der skurrilen Reality Show aufbauen. Die
       Milieus, die sich mit der Dauerherrschaft der AKP abgefunden haben, wachen
       dieser Tage mit der Möglichkeit auf, dass ein neuer Skandal die Regierung
       erschüttern könnte.
       
       Führende Journalist:innen des Landes kommentieren den ganzen Tag lang
       Pekers Symbolik: „Peker hat dieses Mal ein schwarzes statt weißes Hemd
       getragen. Hat das eine Bedeutung?“ oder: „Dieses Mal gibt es mehr als ein
       Buch im Bild. Ein Buch von Dostojewski. Was möchte Peker damit sagen?“
       
       Es wirkt, als würden sich alle wünschen, diese Show gehe niemals zu Ende.
       Ein rechtsextremer Krimineller, der mal gesagt hat, er werde im Blut von
       den Akdemiker:innen baden, die zur friedlichen [4][Lösung des
       Kurdenkonflikts] aufgerufen hatten, ist heute eine Art Volksheld. Dieser
       Volksheld spricht jetzt selbst von der Lösung des Kurdenkonflikts – weil er
       linksliberale Milieus und die internationale Presse anspricht.
       
       Pekers Sprache findet langsam Eingang in die türkische Popkultur: Die
       Menschen sprechen sich mit „werte Freunde“ und „werte Geschwister“ an, so
       wie Peker seine Zuschauer:innen anspricht. Die türkische Öffentlichkeit
       erhofft sich viel von seinen Behauptungen. Natürlich hätten sie auch
       überall anders auf der Welt einen gewissen Nachrichtenwert. Trotzdem ist es
       naiv, von ihnen zu erwarten, dass sie die Regierung stürzen. Deshalb ist
       diese eigenartige Reality Show dann doch spezifisch für die Türkei. Daran
       hat auch eine Opposition ihren Anteil, die in 20 Jahren nichts gegen das
       Erdoğan-Regime ausrichten konnte.
       
       ## Können Skandale etwas verändern?
       
       Alle paar Jahre gibt es einen neuen Skandal, der den Dreck der Regierung
       vor Augen führt, der ohnehin allen bekannt ist. Gibt es etwas, das die
       Menschen in der Türkei noch schockieren kann?
       
       Da gab es die Tonaufnahmen, die im Winter 2013 auf Youtube hochgeladen
       wurden, als gerade Staatsanwälte, denen Gülen-Nähe nachgesagt wurde, eine
       Operation gegen Korruption gestartet hatten. Darin forderte Erdoğan seinen
       Sohn auf, das Geld zu Hause verschwinden zu lassen. Auch damals etablierten
       sich Ausdrücke in der populären Kultur: „sıfırlamak“ für „verschwinden
       lassen“ und „bıbıcım“ für „Papi“, mit dem sich Bilal Erdoğan an seinen
       Vater wandte. Damals dachte man, Erdoğan würde jetzt zurücktreten.
       
       All das geschah, als das Präsidialsystem in der Türkei noch nicht
       eingeführt war, Erdoğan war also noch nicht so mächtig wie heute. Trotzdem
       wurde die [5][offensichtliche Korruption] als Terroroperation gegen die
       Regierung abgetan. Es passierte nichts.
       
       Und da gab es den iranischen Unternehmer Reza Zarrab, der mithilfe der
       staatlichen türkischen Bank das Wirtschaftsembargo gegen den Iran umging,
       in den USA festgenommen wurde und Hoffnungen weckte, dass Vergehen der
       türkischen Regierung aufgedeckt würden. Diesmal wurde der New Yorker
       Staatsanwalt Preet Bharara, der die Ermittlungen leitete, zum Volkshelden
       erklärt. Aber auch diesmal wurde die Hoffnung enttäuscht. Eine Regierung,
       die bis zum Hals im Korruptionssumpf steckt, kam wieder davon. So gewöhnte
       sich ein Land daran, dass seine Regierung korrupt ist, dieser Umstand aber
       zu keinerlei Konsequenz führt.
       
       ## Was ist Show und was nicht?
       
       Auch die Peker-Videos werden nicht zu Rücktritten führen. Vielleicht führen
       sie dazu, dass sich Wähler:innen von der AKP und MHP abwenden. Aber die
       Menschen haben aus ihren Erfahrungen gelernt, lehnen sich diesmal zurück
       und genießen die Show. Der Genuss hilft ihnen, mit ihrer Verzweiflung
       umzugehen. Es ist nicht so, dass die Aussagen Pekers nichts weiter als
       Unterhaltungswert haben. Aber die politische Kultur in der Türkei ist an
       einem Punkt angekommen, dass sich politisch relevantes Geschehen in seinem
       Unterhaltungswert erschöpft.
       
       Der US-amerikanische Autor Neil Postman schrieb in seinem Buch „Wir
       amüsieren uns zu Tode“: „Mit jedem Tag wird es schwieriger, die Show von
       der Nicht-Show zu unterscheiden und so verändert sich die Qualität unserer
       kulturellen Erzählung.“
       
       Von der Erwartung, dass Korruption zu Konsequenzen führt, ist in der Türkei
       nicht mehr übrig geblieben als die Erwartung unterhalten zu werden. Peker
       weiß um diese Erwartung. Deshalb wird er in Folge 9 wohl tatsächlich über
       Erdoğan sprechen.
       
       Aus dem Türkischen: Volkan Ağar
       
       2 Jun 2021
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Politik-und-Unterwelt-in-der-Tuerkei/!5769813
   DIR [2] https://www.youtube.com/watch?v=sYvs-m5hFso
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   DIR [5] /Korruption-in-der-Tuerkei/!5763098
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Ali Çelikkan
       
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