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       # taz.de -- Shida Bazyar über Rassismus: „Rechter Terror hat Kontinuität“
       
       > Der Roman „Drei Kameradinnen“ zeigt Perspektiven auf rassistische
       > Strukturen. Autorin Shida Bazyar über rechte Gewalt und fehlendes
       > Vertrauen in den Literaturbetrieb.
       
   IMG Bild: Autorin Shida Bazyar verzichtet in ihrem neuen Buch darauf, Migrationsbiografien zu benennen
       
       2016 erschien mit [1][„Nachts ist es leise in Teheran“ ihr Debüt] – eine
       vielstimmige Familiengeschichte, in der Shida Bazyar sowohl von der
       [2][Islamischen Revolution 1979] im Iran erzählt als auch vom Ankommen
       einer geflüchteten Familie in Deutschland. In ihrem neuen Roman „Drei
       Kameradinnen“ wird nur mit einer Stimme gesprochen, dafür aber umso lauter
       und manchmal direkt zur*zum Lesenden. 
       
       Protagonistin Kasih erzählt vom Aufwachsen in einer deutschen Großstadt, in
       der Diversität, aber auch Alltagsrassismus herrscht. In ihr versuchen Kasih
       und ihre Jugendfreundinnen Saya und Hani Teil einer Gesellschaft zu sein,
       für die sie wiederum „weder Deutsche noch Flüchtlinge“ sind. Shida Bazyar,
       die in Hildesheim Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus studierte,
       schöpft hier aus eigenen Erfahrungen, um zu verdeutlichen, wie es ist,
       immer und überall infrage gestellt zu werden. 
       
       taz: Frau Bazyar, in Ihrem neuen Roman geht es um Erfahrungen mit
       Alltagsrassismus und rechter Gewalt aus der Perspektive Betroffener. „Drei
       Kameradinnen“ klingt militärisch, nach Kampfbereitschaft. Wieso dieser
       Titel? 
       
       Shida Bazyar: Der Titel war da, bevor der Text da war. Ich hatte im Vorfeld
       „Drei Kameraden“ von [3][Erich Maria Remarque] gelesen. Das hat mich wider
       Erwarten total geplättet. Es geht um drei Männer, die sich im Ersten
       Weltkrieg kennenlernen und die ihr gemeinsames Trauma eint. Das Buch hat
       mir gezeigt, dass ich diese Art Freundschaftsgeschichte auch über Frauen
       lesen möchte. Dadurch, dass mein Text letztlich von drei Frauen handelt,
       die ihre eigenen Kämpfe gemeinsam durchstehen und eine Vergangenheit
       teilen, hat der Titel sehr gut gepasst.
       
       „Kameradschaft“ wird auch von rechten Gruppierungen gerne propagiert. In
       Ihrem Buch geht es aber um die andere Seite, diejenigen, die von rechten
       Ressentiments betroffen sind. 
       
       Der Begriff wird von ganz unterschiedlichen Menschen genutzt; von der
       Feuerwehr zum Beispiel. Aber ja, auch rechte Gruppierungen nutzen ihn, um
       zu mobilisieren und ihren Anhängern ein Gefühl von Stärke und Zusammenhalt
       zu suggerieren. Ich wollte den Begriff zurückhaben, nicht weil er mir so
       wichtig ist, sondern weil ich finde, dass wir Nazis keine Begrifflichkeiten
       überlassen sollten.
       
       Ihre Protagonistinnen [4][trifft Rassismus aufgrund ihrer
       (post-)migrantischen Hintergründe]. Diese sparen Sie aber gewollt aus.
       Warum? 
       
       Ich habe meine Figuren erst beim Schreiben kennengelernt. Dementsprechend
       habe ich geschaut, wann der Punkt kommt, an dem ich sie anhand ihrer
       Familienbiografien beschreiben muss. Irgendwann habe ich gemerkt, dass es
       nicht relevant ist, zu sagen, woher jemand kommt. Ein Großteil der Figuren
       ist ja in Deutschland aufgewachsen und sozialisiert. Alles, was es darüber
       zu sagen gibt, kann vorkommen, ohne dass ich es verorten muss.
       
       Man erwischt sich trotzdem dabei, sich Gedanken über den Background zu
       machen. Was sagt das über die Leser*innen? 
       
       Das sind blinde Flecken, die wir alle haben, wir sind ja auch im gleichen
       Gesellschaftssystem aufgewachsen. Ich stelle mich da nicht drüber. Im
       Gegensatz zu meiner Erzählerin Kasih, die anspricht, was die Leser*innen
       alles falsch machen.
       
       Das da wäre? 
       
       Dass eine Antwort auf die Frage „Woher kommst du eigentlich?“ geradezu
       eingefordert wird, von wegen „Ich mein es nur gut und bin neugierig“. Ich
       verstehe das, frage mich aber auch, ob es so schwer auszuhalten ist, es
       nicht zu wissen. Ich frage auch nicht jede*n, woher er*sie kommt. Ich bin
       mit Menschen befreundet und kenne die Details ihrer Migrationsgeschichte
       nicht. Ich muss sie nicht wissen – ich muss von Menschen nur das wissen,
       was sie mir selber sagen.
       
       Auch auf Personenbeschreibungen verzichten Sie. Braucht es die nicht, um
       die Charaktere nahbarer zu machen? 
       
       Ich finde, dass das gar kein Kriterium für literarische Figuren sein muss,
       weder für weibliche noch männliche, es sei denn, es tut was zur Sache.
       Deswegen habe ich darauf verzichtet, habe aber selbst gemerkt, dass wir das
       alle machen, und es deswegen auch so prominent in den Text gebracht, indem
       Kasih sagt: „Ihr habt euch jetzt bestimmt alle gefragt, wer die Heißeste
       von uns ist.“ Ich habe also die Prozesse, die ich selbst kenne, für die ich
       aber mittlerweile sensibilisiert bin, in den Text eingebaut.
       
       Kasih, Saya und Hani gehen mit Rassismuserfahrungen unterschiedlich um. Was
       hat es mit den verschiedenen Positionen auf sich – oder sind es gar
       Entwicklungsstufen ein und derselben Person? 
       
       Ich kenne alle drei Tendenzen von mir selbst. Und ich habe beim Schreiben
       überlegt, wer von ihnen mir im Umgang mit bestimmten Erfahrungen am
       nächsten kommt. Anfangs leugnet man, dass man irgendwie benachteiligt wird,
       dann kommen Erkenntnis und Wut, und irgendwann kann man diese Wut
       kanalisieren. Das kommt auch immer auf die Gruppenkonstellation an. Ich bin
       mir sicher, dass Hani, die sehr beschwichtigend agiert, in einer anderen
       Konstellation auch ganz schnell die sein könnte, die den Finger drauf legt.
       Sie weiß aber, dass Saya diesen Job schon erledigt.
       
       Nazi-Chatprotokolle, Angriffe auf Shisha-Bars und Synagogen: Entsprang Ihr
       Roman den schrecklichen Taten der vergangenen Jahre? 
       
       Ich habe beim Schreiben gar nicht damit gerechnet, dass rechter Terror
       überhaupt Thema des Romans wird – das hat sich so eingeschlichen. Weil eine
       Figur wie Saya in unserer Gegenwart gar nicht darum herumkommt, sich mit
       [5][rechtem Terror zu beschäftigen]. Als ich angefangen habe zu schreiben,
       war das noch vor Halle, Hanau, dem Mord an Walter Lübcke und dem NSU 2.0.
       Trotzdem musste ich beim Fertigstellen des Manuskripts nur einzelne
       Keywords ergänzen. Rechter Terror hat einfach so eine Kontinuität, dass ich
       einem Text, den ich vor zwei Jahren geschrieben habe, kaum etwas hinzufügen
       musste. Das hat mich geschockt.
       
       Das zeigt sich im Misstrauen, das Ihre Erzählerin Kasih nicht nur einer
       vermeintlichen Mehrheitsgesellschaft, sondern auch dem*der Lesenden
       entgegenbringt. 
       
       Ja, ich finde, dass in vielen Debatten sehr deutlich wird, dass einander
       nicht vertraut wird. Egal von welcher Seite. Das ist das Dilemma, in dem
       meine Erzählerin steckt: Sie weiß, dass man ihr nicht traut und damit
       spielt sie. [6][Wenn wir darauf vertrauen würden, dass uns uneingeschränkt
       geglaubt würde], wenn, was wir sagen, akzeptiert und nicht abgewehrt würde,
       dann könnten wir dieselben Sachen sagen, ohne dass es klingt, als würde man
       sich als das größte Opfer stilisieren. Ich denke, dass, wenn mit einem
       größeren [7][Vertrauen an Erzählperspektiven] herangegangen würde, man viel
       eher davon lernen könnte, statt ständig so zu tun, als würden Spaltungen
       dadurch entstehen, weil wir sie benennen. Das ist Quatsch. Die Spaltungen
       sind schon vorhanden.
       
       Diese Spaltung scheint auch mit einem zunehmenden Vertrauensverlust
       gegenüber den Staatsorganen einherzugehen. 
       
       Wenn jemand in einem Land sagt, ich fühle mich hier nicht geschützt und
       die, die mich schützen sollen, machen mir eher Angst, würde man von einer
       solidarischen Gesellschaft doch annehmen, dass sie darauf reagieren würde.
       Was würde ein Horst Seehofer denn verlieren, wenn es ein unabhängiges
       rassismuskritisches Qualitätsmanagement bei der Polizei gäbe? Dass man das
       zu blockieren versucht, heißt doch nur, dass man eigentlich weiß, dass es
       da strukturelle und institutionelle Probleme gibt. [8][Dass Rassismus
       hier so gut verankert ist], liegt ja auch an Leugnungsmechanismen, die so
       tun, als würden die Betroffenen übertreiben. Ich würde gerne vertrauen und
       die Polizei verteidigen, bekomme aber wenig zurück. Natürlich macht ein
       Großteil dort seine Arbeit gut, das halte ich für selbstverständlich. Ich
       halte es aber nicht für selbstverständlich, dass es derartige Ausfälle
       gibt.
       
       Die diesjährige Liste der [9][Nominierten des Leipziger Buchpreises] wurde
       kritisiert, weil sie zu weiß sei. Was meinen Sie, hat der deutsche
       Literaturbetrieb auch ein Rassismusproblem? 
       
       Ich möchte mich nicht zu dieser Liste äußern. Deswegen eher allgemeiner:
       Ich kann mich auf die Rezeption meiner Literatur nicht verlassen. Ich
       zweifle immer, ob ein Lob ein literarisches ist oder ob jemand sich darüber
       profilieren möchte. Oder ob er sich einfach freut, etwas Neues erfahren zu
       haben. Genauso weiß ich nicht, ob ein Verriss wirklich bedeutet, dass ich
       als Autorin noch viel lernen muss, oder ob sich jemand an meiner Präsenz
       stößt – daran, dass ich mich äußere. Das sind keine Erfahrungen, die ich
       explizit im Literaturbetrieb gemacht habe, aber ich kenne sie, weil ich
       weiß, wie es ist, als nicht-weiße Frau die Stimme zu erheben. Das heißt,
       die rassistischen Mechanismen, die die Welt sonst parat hat, die wirken
       auch im Literaturbetrieb. Dass Menschen sich deshalb vielleicht gar nicht
       trauen zu schreiben, ist traurig.
       
       Nun gibt es in diesem Jahr [10][einige nicht-weiße Stimmen, die sich
       getraut und hochgelobte Werke] veröffentlicht haben. Meinen Sie, dass sich
       gerade etwas ändert? 
       
       Es ist schön zu sehen, dass sich was ändert. Als vor fünf Jahren mein
       erster Roman erschien, habe ich mich total edgy gefühlt, von Rassismus zu
       sprechen oder das Konzept Integration infrage zu stellen. Das wär jetzt
       überhaupt nicht mehr krass, sondern selbstverständlich. Ich sehe sehr viele
       wichtige Entwicklungen. Gleichzeitig gibt es natürlich die Gefahr, dass man
       sich darauf ausruht, dass man sagt, es gibt sie ja jetzt, diese
       Autor*innen, dann können wir ja wieder zurück zum weißen Mann, der auf der
       Suche nach sich selbst ist. Deswegen bin ich noch nicht beruhigt – das sind
       eher Symptome, aber eine fehlende nicht-weiße Perspektive in der Literatur
       haben wir nicht behoben, indem wir ein paar nicht-weiße Stimmen ergänzen.
       Wir haben dann Symptome gestillt, müssen aber, wie immer, die Strukturen
       überprüfen.
       
       26 May 2021
       
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