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       # taz.de -- Jelinek-Uraufführung in Hamburg: „Viren tanzen Polka“
       
       > Karin Beier inszeniert ein Pandemie-Stück von Elfriede Jelinek am
       > Schauspielhaus Hamburg. Es ist virtuos, grotesk, plakativ. Aber was war
       > die These?
       
   IMG Bild: Karin Beier lässt Eva Mattes als summende Kirke einen Schweinekopf zerlegen
       
       Vor etwa einem Jahr veröffentlichte das Zeit-Feuilleton einige
       Werkstatteinblicke: Zwei Dutzend Künstler*innen wurden befragt, wie sie
       mit der lähmenden Pandemie-Lockdown-Situation umgehen, was sie denken, wie
       sie leben, an was sie gerade arbeiten. Alle, darunter Sibylle Berg, Nora
       Fingerscheidt, Wolfgang Rihm und Edgar Selge, schienen recht beschäftigt.
       Sie arbeiteten an Rohfassungen, an ihren nächsten Auftritten, an eigenen
       Büchern oder waren am Arbeiten an sich. Allein [1][Elfriede Jelineks]
       Antwort fiel überraschend kurz aus: „Ich arbeite an überhaupt nichts“, gab
       sie zu Protokoll. Entwaffnend ehrlich und beruhigend menschlich.
       
       Aber so richtig lang hielt Jelineks Pause offenbar nicht an. Inzwischen hat
       sie ein neues Stück geschrieben, [2][das Karin Beier jetzt am Hamburger
       Schauspielhaus] uraufgeführt hat. „Lärm. Blindes Sehen. Blinde sehen!“
       heißt es und ist nicht im konventionellen Sinn ein Theaterstück, sondern
       ein etwa 80-seitiger Fließtext. Ohne Handlung, Figuren, Dialoge oder
       Verortungen.
       
       Es ist eine assoziative Sammlung aus dem schockstarren Pandemiejahr und den
       damit einhergehenden Ängsten, Beschränkungen und Bevormundungen. Ein Text
       über das pausenlose Pandemie-Gerede in den Medien, über
       Verschwörungstheorien und Wahrheiten, über Skisport und Bill Gates, über
       Impfversuche und Masken – angesiedelt zwischen Wut und Ironie, zwischen
       Zitaten und Zuschreibungen, zwischen Realität und Fiktion, zwischen
       Schlachtbetrieben und Homers Odyssee.
       
       Es ist ein uneindeutiger Text. Als Bühnenadaption eine Herausforderung –
       und vermutlich ein großer Reiz. Karin Beier schickt Jelineks Textgewitter
       zunächst ganz pur in den tiefschwarzen Theatersaal. Hörspielartig kommen
       Stimmen aus allen Richtungen, einzeln, gesampelt oder von den
       Schauspieler*innen im Chor gesprochen, werden unterfüttert mit
       Original-Wortfetzen aus Talkshows oder Regierungsansprachen.
       
       ## Après-Ski mit Blechbläsern
       
       Konsequent lässt Beier das Publikum den titelgebenden, kakophonischen Lärm
       erfahren, der bald „brüllend auf uns zustürzt“. Erst nach diesem
       20-minütigen Intro verortet sie die Inszenierung auf der Bühne in ein
       [3][„Ischgl“, in eine großartige, holzmassive Après-Ski-Hütte] mit Bänken,
       Barhockern und Tresen (Bühne: Duri Bischoff). Dort posieren die acht
       Darsteller*innen (Josefine Israel, Jan-Peter Kampwirth, Eva Mattes,
       Angelika Richter, Lars Rudolph, Maximilian Scheidt, Ernst Stötzner und
       Julia Wieninger) in schillernden Daunenjacken, verspiegelten Skibrillen
       und kunstfelligen Moonboots (Kostüme: Wicke Naujoks).
       
       Sie lärmen stammtischwütend, während über vier Bildschirme Politikervisagen
       flirren, sie tanzen zu Live-Blechbläsern, die – mit harten Beats verstärkt
       – Russendisko-Stimmung machen (Komposition und musikalische Leitung: Jörg
       Gollasch).
       
       Sie tragen mal Lederhosen, mal antike Flattergewänder, mal Pelzmützen oder
       Schweinemasken, mal sind sie Besserwisser, mal Dauer-Händewascher, mal
       Superman-Ärzte. Sie simulieren Atemnot, performen eine Skimodenschau und
       tanzen Sirtaki, während Schneegestöber, Filme von
       Black-Lives-Matter-Demonstrationen, Tellerliften oder Schweineschlachtungen
       über die Bildschirme flirren (Video: Severin Renke).
       
       „Die Bar brodelt nur so. Viren tanzen Polka“, heißt es einmal im Text. Auf
       der Bühne tobt die Partystimmung so oft vor und zwischen Schweinehälften,
       dass alle Noch-nicht-Vegetarier im Saal es spätestens nach der Premiere
       geworden sein dürften.
       
       ## Kirke und die Schweine
       
       Beier findet viele und viele drastische Bilder zu Jelineks Text. Sie
       sprengt ihn förmlich auf. Sie lässt die großartige Eva Mattes als summende
       Kirke einen Schweinekopf zerlegen und ihre Zauberkräfte mit einem
       Gartenschlauch versprühen, lässt Lars Rudolph als verwirrten China-Panda
       auftreten und Ernst Stötzer – „Ewig hält Aufgeblasenes aber nicht … die
       Luft ist bald raus, auch aus Ihren Lungen“ – eine erschlaffte Sexpuppe in
       den Armen halten. „Männerdienstreisen heute und damals“, kommentiert Julia
       Wieninger die irritierenden Parallelschnitte zwischen Ischgl-Ekstase und
       Odysseus’ Stopover bei der Zauberin Kirke, die laut Epos die Gefährten des
       Helden in Schweine verwandelte.
       
       Am Ende der Bilderflut ist die Skihütte aus den Fugen. Dann konzentriert
       sich Beier auf gekonnte, atemlose Stimmcollagen und angst- und kunstvolle
       Monologe (Josefine Israel! Julia Wieninger!). Insgesamt zückt die
       Regisseurin an diesem Abend das ganz große Besteck. Und doch bleibt am Ende
       eine merkwürdige Leere zurück.
       
       Jelineks Jahresrückblick wirkt trotz seiner vermeintlichen Aktualität schon
       wieder verjährt, der darin beabsichtigte Verzicht auf eine eindeutige
       Haltung hinterlässt vor allem Ratlosigkeit. Und: Was war eigentlich noch
       mal die These der Regisseurin dazu? Sichtbar geworden ist sie an diesem
       Abend nicht. Oder bin ich blind?
       
       8 Jun 2021
       
       ## LINKS
       
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   DIR Katrin Ullmann
       
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       Elfriede Jelinek, die auch den Einsturz des Stadtarchivs Köln zum Thema
       haben.