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       # taz.de -- Bürokratie in Deutschland: Was wir aus Corona lernen könnten
       
       > Ein gute Verwaltung wäre unkorrumpierbar und gerecht. Aber dafür
       > brauchen wir erst mal etwas anderes: eine linke Kritik der Bürokratie.
       
   IMG Bild: Warum reagieren wir mit so viel Gleichmut auf die Tatsache, dass wir so schlecht verwaltet werden?
       
       Eine Krise ist, na ja, so gut wie das, was eine Gesellschaft aus ihr lernt.
       Was das anbelangt, ist der Verdacht groß: Corona ist eine echte
       Scheißkrise. [1][Nehmen wir Bürokratie als Beispiel.]
       
       In unserer arg vereinfachenden politischen Endloserzählung geht es um die
       Beziehung von „Regierung“ und „Volk“. Die Regierung braucht ein gutes Volk.
       Also eines, das seine Steuern zahlt und nicht gleich zu den Nazis rennt,
       wenn ihm etwas an der Regierung nicht passt. Und das Volk braucht eine gute
       Regierung. Also eine, die Versprechungen einhält und nicht gleich Polizei
       und Justiz losschickt, wenn ihr wer im Volk nicht passt.
       
       Aber Regierung und Volk sitzen ja selten gemütlich beieinander. Sie
       begegnen sich vielmehr hauptsächlich symbolisch und Sprechschau-rhetorisch.
       Und da ist der Verlogenheitsfaktor in der Regel groß genug, um Menschen
       fernzuhalten, die sich was aus Würde und Unabhängigkeit machen.
       
       Nein, nicht Zeremonien und Zeichen sind es, die Regierung und Volk
       praktisch miteinander verbinden, sondern ein „intermediärer Sektor“, in dem
       sich die Interessen beider Seiten treffen sollen. Von der Seite des Volkes
       her sind das Organisationen wie Gewerkschaften, Vereine, Verbände,
       Genossenschaften, aber auch Medien, Bewegungen, Szenen. Von der Seite der
       Regierung treten Ordnungsmächte (wie die Polizei), Information (darfst auch
       „Propaganda“ sagen) und, last but not least, Verwaltung in diesen
       intermediären Sektor. Eine traditionelle Verwaltung besteht in der
       Umsetzung des Regierungswillens in ökonomische, kulturelle und alltägliche
       Praxis.
       
       Eine demokratische Verwaltung, wenn es so etwas gibt, würde zwischen dem
       Willen der Regierung und den Bedürfnissen des Volkes vermitteln, und zwar
       bis in jeden Einzelfall hinein. Was wäre also eine gute Verwaltung? Klar:
       menschlich, vernünftig, transparent, selbstlos, also unkorrumpierbar und
       gerecht. Eine solche ideale Verwaltung gibt es auf Erden nicht. Wir wären
       schon froh, wenn man sich von allen Seiten darum bemühte.
       
       Wie wir wissen, steht es um den intermediären Sektor nicht zum Besten. Die
       Gewerkschaften beschränken sich auf Tarifspiele und verteilen an ihre
       Mitglieder bunte Blättchen mit Reklame für Kreuzfahrten und Gewinnspiele.
       Die Berufsverbände lösen sich als Lobbynetzwerke auf, die Medien, nun ja.
       
       ## Lahmarschig und würdelos
       
       Und die Verwaltung? [2][Wir nennen sie Bürokratie,] und wohl jede und jeder
       von uns hat Geschichten zu liefern, wie würdelos, ungerecht,
       menschenfeindlich, rücksichtslos, widersinnig, lahmarschig, undurchsichtig,
       inkompetent und so weiter Bürokratie sein kann. Verwaltung ist uns im
       Alltag viel näher als Regierung, die direkte Macht eines Bürokraten
       betrifft uns mehr als die indirekte der Politik, weil eine Regierung viel
       versprechen kann, was ihre Bürokratie dann schon zu verhindern wissen wird.
       Und weil wir Bürokraten nicht wählen und schon gar nicht abwählen können.
       
       Krisen machen auch hier etwas sichtbar, was sonst in alltäglicher Praxis
       verborgen ist. So sprechen wir auch jetzt wieder (und natürlich nicht zu
       Unrecht) vom Versagen der Regierung und dem einzelner Ministerien ganz
       besonders. Vom großen strukturellen Versagen der Bürokratie in nahezu allen
       Folgeproblemen der Pandemie dagegen wird vergleichsweise wenig gesprochen.
       
       Bürokratie ist ein Subsystem der Gesellschaft, und sie ist ein Subsystem in
       jedem Subsystem. Die Wissenschaft, die Medizin, das Finanzwesen, die
       Kultur, die Bildung, sie alle haben ihre eigene Bürokratie, die wiederum
       mit der Metabürokratie des Staates verflochten ist.
       
       ## Bürokratie als Wucherung
       
       Sie alle haben fünf eingebaute Probleme: Erstens: die Korruption. Sprechen
       wir erst gar nicht von Maskendeals und betrügerischen Testabrechnungen oder
       gefälschten Dokumenten: Bürokratie als Kontrollinstanz verhindert
       Korruption in der Regel nur in dem Maße, in dem sie ihr neue
       Betätigungsfelder aufbaut. Zweitens: Die Bürokratie als Selbstzweck ist ein
       System, das sich immer weiter selbst ausdehnen will und daher nicht im
       Einzelfall, sondern prinzipiell überfordert ist. Die Antwort der Bürokratie
       auf Fehler ist: noch mehr Bürokratie.
       
       Drittens: Intransparenz. Bürokratische Systeme schotten sich nach außen hin
       ab. Das Wesen einer bürokratischen Macht besteht darin zu kontrollieren,
       ohne kontrolliert zu werden. Viertens: Abstraktion. Bürokratie ist ein
       System, das an der eigenen Unverständlichkeit arbeitet. Und fünftens:
       Schwerfälligkeit. Je größer der bürokratische Apparat, desto retardierter
       die Bewegungen.
       
       ## Die Zukunft der Demokratie
       
       All das ist ja nun nicht gerade neu. Die Kritik an der Bürokratie begleitet
       die Entwicklung der modernen Staaten, und oft von der falschen Seite her.
       Die neoliberale Kritik zum Beispiel betrifft nur die möglichen Hemmungen
       für die Unternehmungen des Kapitals, gegen die Bürokratisierung der
       sozialen und medizinischen Grundversorgung von uns Normalmenschen hat sie
       nichts.
       
       Aber gerade deswegen kann man fragen: Was ist eigentlich mit uns los, dass
       wir mit so viel Gleichmut und Desinteresse auf die unübersehbare Tatsache
       reagieren, dass wir so schlecht verwaltet werden? In der Coronakrise zeigte
       sich einmal mehr, wie sich Komplizenschaft und Widerspruch von Politik und
       Bürokratie auswirken (man wird es einst den Jens-Spahn-Faktor nennen).
       
       So entstand die soziale Chaotisierung, die nahezu jeder Mensch in dieser
       Krise erleben durfte, sei es bei der Organisation der individuellen
       Beihilfen, bei der Impffolge, bei der Durchsetzung von Lockdownregeln oder
       bei Ein- und Ausreisebestimmungen.
       
       Politik und Verwaltung setzten offenbar alles daran, am Ende genau dies zu
       verhindern: aus Fehlern lernen. Es muss neben der ökonomischen und der
       technischen auch eine soziale und kulturelle, das heißt [3][eine linke
       Kritik der Bürokratie] geben. Denn genau hier entscheidet sich, ob
       Demokratie eine Zukunft hat.
       
       9 Jun 2021
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.deutschlandfunkkultur.de/verwaltung-in-corona-zeiten-lob-der-buerokratie.2162.de.html?dram%3Aarticle_id=493994
   DIR [2] https://www.tagesspiegel.de/wissen/geschichte-der-buerokratie-kritik-lebensaeusserungen-als-aktenvorgang/19185546.html
   DIR [3] https://www.sueddeutsche.de/kultur/buerokratie-und-liberalismus-papierkram-und-albtraeume-1.2869315
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Georg Seeßlen
       
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