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       # taz.de -- Repression in Algerien: Opposition boykottiert Pseudowahl
       
       > Erstmals seit dem Sturz Bouteflikas wählt Algerien ein neues Parlament.
       > Wahl-Kritik versucht das Regime seit Wochen mit Gewalt zu verhindern.
       
   IMG Bild: Algeriens Protestbewegung fordert echten Wandel
       
       Tunis taz | Verhaftungen, Polizeigewalt, Ermittlungen gegen
       Aktivist*innen, Parteiverbotsverfahren, Folter und Terrorismusvorwürfe
       gegen Journalist*innen: Seit Wochen intensivieren Algeriens Behörden die
       Repressalien gegen die Opposition und [1][die Protestbewegung im Land.
       Letztere – meist „Hirak“ (Bewegung) genannt – zieht seit 2019 konsequent
       friedlich für tiefgreifende politische Reformen und ein Ende der
       Militärherrschaft durch Algeriens Straßen]. Derzeit steht sie so stark
       unter Druck wie nie zuvor.
       
       Grund für die Repressionswelle: Algeriens autoritäre Staatsführung lässt am
       Samstag ein neues Parlament wählen. Die Nationale Volksversammlung war
       zuletzt 2017 und damit noch unter Ex-Präsident Abdelaziz Bouteflika
       gewählt worden. Der neue Präsident Abdelmadjid Tebboune hatte das
       Parlament im Februar aufgelöst und vorgezogene Neuwahlen angekündigt.
       
       Störversuche des Hirak will die Staatsführung um jeden Preis unterbinden.
       Schon seit dem Rücktritt Bouteflikas nach Massendemonstrationen im April
       2019 versucht Algeriens Regime, das heute unangefochten vom Militär geführt
       wird, echte Reformen zu verhindern und die Privilegien der Staatseliten
       zu verteidigen. Die hinter den Kulissen tonangebenden Generäle müssen dafür
       aber die Legitimität der politischen Führung restaurieren, die formal das
       Land regiert. Das Einsetzen einer „gewählten“ Legislative soll den Hirak
       nun endgültig in die Defensive drängen.
       
       ## Regime ließ Polizei 2019 gegen Protestierende vorgehen
       
       Ob dies funktioniert, ist jedoch zweifelhaft: Alle Parteien, die mit dem
       Hirak assoziiert sind, boykottieren die Wahl und mobilisieren schon seit
       Wochen gegen die intransparente und pseudodemokratische Abstimmung. Der
       Pakt der demokratischen Alternative (PAD) etwa, ein Bündnis oppositioneller
       Parteien und Nichtregierungsorganisationen, hat Anfang Juni seinen
       Boykottaufruf erneuert und die sofortige Freilassung aller politischen
       Häftlinge sowie ein Ende der Repressalien gefordert.
       
       Tebboune, der Ende 2019 in einer von Manipulationsvorwürfen überschatteten
       Abstimmung „gewählt“ wurde, ist derweil bemüht, den Gegenwind
       herunterzuspielen. Der Hirak habe seine Legitimität verloren. Die Mehrheit
       der Bevölkerung sei nicht gegen die Wahl, sagte er vergangene Woche der
       französischen Tageszeitung Le Point. Er weigere sich, sich dem „Diktat
       einer Minderheit“ zu beugen.
       
       Neu ist diese Rhetorik nicht. Schon bei der Präsidentschaftswahl 2019 ließ
       das Regime den Polizeiapparat auf Protestierende einknüppeln, während
       Regimevertreter*innen von einer schweigenden, die Regierung
       unterstützenden Mehrheit schwadronierten. Der Unterschied zu heute ist die
       Präsenz des Hirak auf den Straßen. Während 2019 noch landesweit und täglich
       Demonstrationen stattfanden, hat das Regime diesmal frühzeitig die
       Repressalien intensiviert.
       
       Im Mai war es der Polizei erstmals gelungen, auch die Studierendenproteste
       aufzulösen, die jeden Dienstag stattfinden. Seit zwei Wochen verhindert sie
       auch die Sternmärsche in der Hauptstadt Algier, indem sie schon an den
       Versammlungsorten hart durchgreift und somit das Entstehen von
       Demonstrationszügen im Keim erstickt.
       
       ## Angst vor Folter
       
       Offenbar will das Regime die 2019 geöffnete Büchse der Pandora nun
       endgültig wieder schließen. Die Anzahl der politischen Häftlinge ist
       inzwischen auf 217 gestiegen, wie das Aktivistenkollektiv Komitee zur
       Befreiung der Gefangenen (CNLD) berichtet. Immer öfter berichten
       Inhaftierte, in Polizeigewahrsam geschlagen, bedroht, sexuell misshandelt
       oder anderweitig malträtiert worden zu sein. Vor einer [2][Rückkehr der
       während des Bürgerkriegs der 1990er Jahre] hemmungslos praktizierten
       Folterpraktiken des Polizeiapparats wird gewarnt.
       
       Zudem schrillen die Alarmglocken derzeit, da die Behörden auch versuchen,
       oppositionelle Organisationen verbieten zu lassen. Während zwei mit dem
       Hirak verbündeten Parteien ein Verbotsverfahren droht, hat die Regierung
       eine Auflösungsklage gegen den während der Hirak-Proteste äußerst aktiven
       Jugendverband RAJ eingereicht. Die Journalist*innen Said Boudour und
       Jamila Loukil, der Gewerkschaftler Kaddour Chouicha und neun
       Demonstrant*innen müssen sich derweil vor einem Gericht in Oran wegen
       fadenscheiniger Terrorismusvorwürfe verantworten.
       
       Die Strategie des Regimes ist klar. Es nutzt die jüngst eher schwache
       Mobilisierung des Hirak eiskalt aus und will dem revolutionären „Spuk“
       endgültig den Garaus machen. Einzig in der Region Kabylei östlich von
       Algier wird weiter munter demonstriert. Um der konterrevolutionären Dynamik
       etwas entgegenzusetzen, wird es jedoch mehr brauchen.
       
       Algerien steht sprichwörtlich am Scheideweg.
       
       11 Jun 2021
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Sofian Philip Naceur
       
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