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       # taz.de -- Stimmen von kritischen Juden: Dissidenz und Diaspora
       
       > Juden und Jüdinnen, die sich gegen das Besatzungsunrecht in Palästina
       > stellen, verdienen unseren Respekt. Und Schutz vor Diffamierung.
       
   IMG Bild: Ein nicht kalkulierbares Judentum stört die Ruhe. Es zwingt zum Nachdenken
       
       Die „Radical Jewish Voices“ in Großbritannien bieten in ihrem Webshop einen
       Sticker an: Make Anarchism Jewish again! Das ist eine Erinnerung an eine
       einstmals starke Bewegung. In New York erschien fast hundert Jahre lang auf
       Jiddisch die anarchistische Zeitung Fraye Arbayter Shtime.
       
       Unsere Erinnerungskultur kennt wenig Bezüge auf ein jüdisches Leben
       jenseits eines Staat und Kapitalismus bejahenden Bürgertums. Juden sind
       Opfer, als hätten sie nie gekämpft, als wären sie auch niemals Teil von
       Bewegungen für eine gerechtere Welt gewesen. Nur der Zionismus findet in
       dieser historischen Konfiguration Platz – die Opposition dagegen dann schon
       nicht mehr.
       
       Es hat auch mit solchen geschichtspolitischen Prägungen zu tun, wenn einem
       linken, dissidentischen Judentum deutscher oder israelischer Herkunft in
       der hiesigen Öffentlichkeit so viel Misstrauen entgegenschlägt. Misstrauen
       und Abwehr sind sprungbereit, längst bevor ein Stichwort wie Apartheid
       fällt. Ein nicht kalkulierbares Judentum stört die Ruhe. Es zwingt zum
       Nachdenken.
       
       Dass ich [1][Juden und Jüdinnen], die sich gegen Besatzungsunrecht stellen,
       „dissidentisch“ nenne, ist gleichfalls Ausfluss deutscher
       Kräfteverhältnisse. Als Amerikanerin käme ich darauf vielleicht nicht.
       
       Die vergangenen Wochen boten Gelegenheit, mit einer Reihe jüdischer Stimmen
       in den USA und Europa Bekanntschaft zu machen, die im Hinblick auf die
       Besatzungspolitik die Losung „Nicht in meinem Namen“ vereint. Das ließ auch
       eine Ahnung aufkommen, was diasporisches Judentum alles bedeuten kann.
       
       ## Respekt für Dissidenten
       
       Etwa bei den „Judeobolschewiener*innen“ in Österreich; das Kollektiv beruft
       sich auf das Prinzip der Doikayt, verkürzt gesagt ein jiddischer Begriff
       für soziale Emanzipation in der Diaspora, gegen jegliche nationalistischen
       Identifikationen. Auf Antisemitismus antwortet das Kollektiv nach dem
       intersektionalen Prinzip: Judenhass wird wie Rassismus als eine Spielart
       von Diskriminierung bekämpft und nicht separat gestellt, nicht als ein Übel
       über allen anderen Übeln betrachtet.
       
       Das ist ein Ansatz, der Kontroversen auslösen muss, gerade in Österreich
       oder Deutschland. Aber Juden und Jüdinnen, die bereit sind, in der
       Palästina-Solidarität jener Sorte Judenhass standzuhalten, die sich aus der
       Verzweiflung über das gemeinsam kritisierte Unrecht speist, verdienen
       meines Erachtens Respekt und nicht Diffamierung.
       
       Das verpflichtet keineswegs dazu, an jeder Tonart jüdischer Opposition
       Gefallen zu finden. Ich erinnere eine Szene in Hebron, wo ein Vertreter von
       „Breaking the Silence“ die segregierte Nutzung einer Straße – getrennt nach
       jüdischen Siedlern und Palästinensern – mit den Worten erläuterte: „He, ihr
       seid doch Deutsche, woran erinnert euch das?“
       
       ## Die Kippe im Vorgarten
       
       Die richtige Antwort lautete: Ghetto, aber niemand von uns brachte sie über
       die Lippen. Auch bei dissidentischen Israelis in Deutschland klingt manches
       schrill: wie wenn sich jemand von der Familie lossagt und an der Haustür
       demonstrativ noch eine Kippe in den Vorgarten wirft.
       
       Ich habe also eine Weile gebraucht, um mich dem Phänomen linker Jüdischkeit
       zu nähern. Zögerlich bezog ich vor zwei Jahren im Streit um die Vergabe des
       Göttinger Friedenspreises publizistisch Position, verteidigte die „Jüdische
       Stimme für einen gerechten Frieden in Nahost“ gegen den Vorwurf des
       Antisemitismus – und hatte selbigen dann bald selbst am Hals.
       
       Es bedarf so wenig, um des Schlimmsten mir Vorstellbaren bezichtigt zu
       werden. Über eine Kolumne hieß es neulich, ich klänge wie Hitler. Wahlweise
       wie Martin Walser. Nicht ernst zu nehmen, gewiss – aber wo beginnt das
       Ernstnehmen? (Und wenn selbst ich die Antwort darauf nur tastend finde, wie
       findet sie dann eine Palästinenserin?)
       
       ## Die dumme Trennung in Gute und Böse
       
       Lächerlich mein Impuls, zur eigenen Entlastung Belege vorzeigen zu wollen,
       wie lebensprägend das Thema Holocaust für mich war. Mumpitz; es geht denen,
       die das vernichtende Etikett mit leichter Hand verteilen, nie um
       Biografien, Identität, Geworden-Sein. Sie wollen nur einen Graben ausheben.
       Hier sind sie, die Reinen, dort die Schmuddelkinder.
       
       Für dissidentische Juden und Jüdinnen ist es noch weitaus schmerzlicher,
       dass ihr Geworden-Sein ohne jede Bedeutung ist. Der Pädagoge Michael Sappir
       notierte dieser Tage: Viele begriffen einfach nicht, wie viel „Überwindung,
       Selbstkritik und Selbstbildung“ für Israelis wie ihn nötig gewesen seien,
       um zu radikalen Gegnern der Besatzungspolitik zu werden. Für solche Juden
       habe der Holocaust wohl schlicht weniger Bedeutung, mutmaßen manche
       Nachfahren der Täter.
       
       Marginalisiert zu sein in einer ohnehin kleinen Minderheit, das ist immer
       heikel. Und sich dann noch gegen das Israel-bezogene Konstrukt stellen, das
       den Deutschen so viel Entlastung verschafft … Auf diese Komplexität
       jüdischer Dissidenz mochte ich mich früher intellektuell nicht einlassen –
       keine Haltegriffe in Sicht. Heute denke ich, dass sich Linke dieser
       Herausforderung stellen müssen.
       
       ## Nichts ist auf Dauer errungen
       
       Um als Ältere zu sprechen: Weil Deutschland erst nach langem Sträuben volle
       Verantwortung für die Shoah übernahm, hat sich ein Großteil meiner
       Generation in einem Gedenk-Mainstream eingerichtet, den wir glauben
       (mit)errungen zu haben. Nur nicht rühren an das Erreichte, an das schöne
       In-der-Mitte-Sein!
       
       Aber nichts ist auf Dauer errungen. Man schaue nur in die Umfragewerte. Und
       wenn die Berichte von Lehrern zutreffen, wie fern vielen Jugendlichen
       (nicht nur den migrantischen) der Holocaust ist, dann dürfte klar sein,
       dass neue Ansätze nottun.
       
       Es sind eher Minderheiten, die heute zeigen, wie sich Antifaschismus und
       [2][radikale Solidarität] verbinden lassen, unter Überwindung einiger sehr
       deutscher Psychologien. Von diesem Neuen ist die jüdische Dissidenz ein
       sehr kleiner, aber bedeutsamer Teil.
       
       27 May 2021
       
       ## LINKS
       
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