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       # taz.de -- Instagram-Projekt von SWR und BR: Unsere @ichbinsophiescholl
       
       > Ein Instagram-Projekt von SWR und BR über Sophie Scholls letzte Monate
       > soll zum Thema NS-Zeit sensibilisieren. Aber passen Figur und Format
       > überhaupt dazu?
       
   IMG Bild: Vergangenheit trifft Gegenwart: Die Schauspielerin Luna Wedler verkörpert Sophie Scholl
       
       „Stell dir vor, es ist 1942 auf Instagram …“. Dieser Satz ist auf den
       ersten Posts des Instagram-Profils „@ichbinsophiescholl“ zu lesen, einem
       multimedialen Projekt von SWR und BR, das dem 100. Geburtstag von Sophie
       Scholl gewidmet ist. Knapp 1 Million Abonnent:innen hat der Account
       mittlerweile. Das Interesse ist also groß.
       
       Am 4. Mai 2021 startete das Projekt. Genau 79 Jahre zuvor reiste Sophie
       Scholl nach München, um ihr Studium der Philosophie und Biologie zu
       beginnen. „Studieren in der Großstadt, ich freu mich, auf alles was kommt“,
       ruft sie auf Instagram in die Kamera. Verkörpert wird Scholl von der
       21-jährigen Schauspielerin Luna Wedler. Auch andere wichtige Personen aus
       dem Leben der Widerstandskämpferin, wie ihr Bruder Hans Scholl oder ihr
       Verlobter Fritz Hartnagel, tauchen auf.
       
       Die Instagram-Sophie filmt ihr Leben, sie teilt Propagandafilme der
       Nationalsozialisten und ihre Gedanken dazu, postet Zeichnungen und Fotos.
       Im Zentrum steht, was Sophie fühlt und denkt. So soll „die
       Widerstandskämpferin ins Hier und Jetzt“ geholt werden, schreiben die
       Macher:innen. Den letzten Instagrampost soll es am 18. Februar 2022,
       also genau 79 Jahre nach dem 18. Februar 1943 geben, als Sophie Scholl und
       ihr Bruder verhaftet und vier Tage später hingerichtet wurden.
       
       „@ichbinsophiescholl“ ist eine „erzählerische Zeitreise“, die Fragen
       aufwirft. Follower:innen werden ins Jahr 1942 und 1943 katapultiert.
       Auf dem Kanal von „@ichbinsophiescholl“ vermischen sich Vergangenheit
       und Gegenwart. Braucht es das? Ist das der Weg, um Geschichte erlebbar zu
       machen? Und ist Sophie Scholl die richtige Identifikationsfigur?
       
       ## Nicht der erste Versuch
       
       Medial wird das Projekt bislang gleichermaßen gefeiert und kritisiert.
       Einen „Durchbruch“, [1][nannte es die NZZ]. [2][Für den NDR] ist das
       Projekt „faszinierend“. [3][Auf Übermedien] nennt man es, „das heikle Spiel
       mit einer historischen Figur“. Wo Geschichtsunterricht junge Menschen nicht
       mehr für den Nationalsozialismus interessieren kann, soll die
       Instagram-Sophie-Scholl nun ran. 47 Prozent der 14- bis 16-Jährigen können
       den Begriff „Auschwitz“ nicht einordnen. Das zeigen Ergebnisse einer
       [4][repräsentativen Forsa-Umfrage von 2017]. Dass Auschwitz-Birkenau ein
       Konzentrations- und Vernichtungslager war, wissen nur 59 Prozent der
       Schülerinnen und Schüler ab 14 Jahren.
       
       Doch lässt sich Geschichte über Instagram überhaupt vermitteln? Die
       Macher:innen [5][sind davon überzeugt]: „Wir glauben, dass dieses
       Projekt die Grundlage bereiten kann für eine tiefere Auseinandersetzung mit
       unserer Geschichte.“ In der Bildungsarbeit setzt man in Deutschland seit
       jeher auf historische Bezüge. Es werden Gedenkstättenfahrten organisiert
       und Schoah-Überlebende eingeladen. Dass diese Erfahrungen für Jugendliche
       prägend sein können, steht außer Frage. Doch sie reichen oftmals nicht aus,
       um ein tiefes Interesse zu wecken, geschweige denn Jugendliche für den
       Antisemitismus von heute zu sensibilisieren oder diesen auszuradieren.
       [6][Dass beweisen auch die zahlreichen antisemitischen Vorfälle, die es
       immer wieder an deutschen Schulen gibt.]
       
       „@ichbinsophiescholl“ ist nicht der erste multimediale Versuch, sich mit
       dem Nationalsozialismus zu befassen. Ganz bewusst gibt es Parallelen zum
       israelischen Instagramprojekt „Eva.Stories“, [7][das 2019 für viel Aufsehen
       sorgte.] In „Eva.Stories“ wird die Geschichte der 13-jährigen ungarischen
       Jüdin Eva Heymann erzählt, die 1944 in Auschwitz ermordet worden war. Auch
       die Macher:innen von „Eva.Stories“ hatten den Anspruch, junge Menschen
       für den Holocaust zu sensibilisieren.
       
       ## Die Auslassung als Problem
       
       Marina Chernivsky leitet das Kompetenzzentrum für Prävention und
       Empowerment der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland und ist
       Geschäftsführerin von Ofek e. V., einer Beratungsstelle für Opfer
       antisemitischer Gewalt. Chernivsky hat im Rahmen ihrer Arbeit unter anderem
       im Bereich der Antisemitismusprävention im Bildungsbereich gearbeitet.
       Denkt sie, Instagram ist das richtige Medium, um Jugendliche für die
       Thematik des Nationalsozialismus zu sensibilisieren?
       
       „Es geht hier nicht vorrangig um das Format, sondern insgesamt um das
       deutsche Narrativ und die gefühlte Opferschaft“, sagt Chernivsky. Die
       Macher:innen des Projekts sind überzeugt, dass „@ichbinsophiescholl“
       die Grundlage bereiten könne für eine tiefere Auseinandersetzung mit
       „unserer Geschichte“. Chernivsky sieht das kritisch: „Die Frage ist, wessen
       Geschichte ist hier mit gemeint?“, sagt sie. Nicht Instagram als
       Vermittlungsmedium ist das Problem, sondern die Erzählweise, die
       Auslassungen.
       
       Wenn die Geschichte von „@ichbinsophiescholl“ 1942 beginnt, finden zur
       selben Zeit Transporte in die Vernichtungslager statt. Auf Instagram geht
       es darum nicht, stattdessen sehen wir einen verwundeten Soldaten. Was
       bleibt ist „die Figur der Leidtragenden und die gefühlte Opferschaft,
       gerade ohne das nötige historische Wissen, das tragende Narrativ“, sagt
       Chernivsky. Was deutlich werde ist, „dass die Geschichte des
       Nationalsozialismus auch ohne den Kontext der Verwobenheit der deutschen
       Gesellschaft mit der Schoah erzählbar ist.“
       
       ## Stilisierung zu Halbgöttern
       
       Ist Sophie Scholl also die falsche Identifikationsfigur? Auf sie können
       sich viele einigen: Linke wie Rechte, die bürgerliche Mitte und Christen.
       Scholl werde als „Popstar der Geschichte“ verehrt, kritisierte ihr
       [8][Neffe Jörg Hartnagel kürzlich]. Besonders aktuell von „Querdenkern“,
       die den Widerstand bewusst ins Zentrum stellen, nicht aber den historischen
       Kontext: Dass Scholl gegen Nationalsozialisten aufbegehrte, lassen die
       „Querdenker“ bewusst aus. Mit Scholl könne man den eigenen Nazigeruch
       loskriegen und sich selbst in der Mitte der Gesellschaft positionieren,
       sagte Hartnagel noch.
       
       Sophie Scholl verkörpert das Narrativ bürgerlichen Widerstands. Und
       „@ichbinsophiescholl“ bedient das Heldenimage von Hans und Sophie
       Scholl. Es stilisiert die beiden zu „Halbgöttern“, wie es der Historiker
       Sönke Zankel formulierte. Zankel wollte die Sichtweise auf die
       Widerstandskämpfer:innen erweitern – [9][und erntete damals viel
       Kritik]. Es hieß, er würde das Ansehen der Geschwister beschädigen.
       
       Können wir den Menschen hinter so viel Mythos noch erkennen?, fragt die
       Historikerin Maren Gottschalk in der jüngst erschienen Biografie „Wie
       schwer ein Menschenleben wiegt: Sophie Scholl“. Sicher: Die
       Flugblattaktionen der „Weißen Rose“ erforderten Mut, waren ein Akt des
       Widerstands. Doch auch eine Sophie Scholl hatte Fehler und Schwächen, ist
       keine eindeutige Persönlichkeit. Was oft fehlt in der Rezeption von Scholl:
       Den Mitgliedern der „Weißen Rose“ ging es vor allem „um ihre persönliche
       Freiheit und den Protest gegen die antichristlichen Nationalsozialisten“,
       sagte Historiker Zankel 2006 [10][in einem Interview mit dem Spiegel].
       
       So strahlt das Projekt der Öffentlich-Rechtlichen etwas Versöhnliches aus,
       so wie deutsche Erinnerungskultur eben schon immer ist: Schaut her, es war
       schon schlimm damals, aber wir hatten wenigstens die Sophie, die hat sich
       bemüht. Wir konnten uns nicht so einfach zur Wehr setzen. Habt Erbarmen mit
       uns Deutschen!
       
       Hätte man bei einem solch monumentalen Projekt nicht auf andere
       Widerstandskämpfer:innen oder -gruppen zurückgreifen können? Auf
       Georg Elser, dessen Attentat auf Hitler nur knapp scheiterte; auf
       [11][jüdische oder kommunistische Gruppen]; auf Partisanen? Offenbar ist
       die deutsche Gesellschaft 76 Jahre nach dem Kriegsende für solche Figuren
       des Widerstands noch immer nicht bereit.
       
       12 Jun 2021
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.nzz.ch/feuilleton/ich-bin-sophie-scholl-durchbruch-eines-neuen-instagram-formats-ld.1626045
   DIR [2] https://www.google.com/url?sa=t&rct=j&q=&esrc=s&source=newssearch&cd=&cad=rja&uact=8&ved=2ahUKEwioqfiOq4rxAhUI-aQKHS2GDtwQxfQBMAJ6BAgJEAM&url=https%3A%2F%2Fwww.ndr.de%2Fkultur%2F-Sophie-Scholl%2Csophiescholl110.html&usg=AOvVaw0N1cwsZtDjPsSyzeMEu-sD
   DIR [3] https://uebermedien.de/60159/sophie-scholl-als-insta-freundin-das-heikle-spiel-mit-einer-historischen-figur/
   DIR [4] https://www.koerber-stiftung.de/pressemeldungen-fotos-journalistenservice/deutsche-wollen-aus-geschichte-lernen-1143
   DIR [5] https://www.swr.de/unternehmen/ich-bin-sophie-scholl-projekt-100.html
   DIR [6] /Antisemitismus-in-der-Schule/!5771410
   DIR [7] /Erinnerungskultur-bei-Instagram/!5592218
   DIR [8] https://www.rnd.de/politik/neffe-von-sophie-scholl-kritisiert-vereinnahmung-durch-afd-querdenker-und-co-2SY23D677SHH4U6UMPMLZFPWK4.html
   DIR [9] https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-9073
   DIR [10] https://www.spiegel.de/panorama/zeitgeschichte/widerstandskreis-weisse-rose-hoeren-wir-endlich-auf-das-bild-von-halbgoettern-zu-zeichnen-a-436915.html
   DIR [11] /Film-ueber-NS-Widerstandskaempfer/!5429567
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Erica Zingher
       
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