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       # taz.de -- Feministischer Klassiker unzensiert: Die Blicke der anderen
       
       > Simone de Beauvoir war Fan, doch die Gesellschaft noch nicht bereit. Nun
       > erst ist „Thérèse und Isabelle“ von Violette Leduc unzensiert erschienen.
       
   IMG Bild: Radikale Sprache des Sexuellen: Violette Leduc 1964 in Paris
       
       Ein katholisches Mädcheninternat, eine Geschichte von Verführung, zwei
       junge Frauen, die ihre Sexualität entdecken, auf eine für den Leser
       schockierende, beinahe gewaltvolle Art: In [1][Violette Leducs] über
       Jahrzehnte nur in der zensierten Fassung erhältlichem Roman „Thérèse und
       Isabelle“ begegnen wir einer radikalen Sprache des Sexuellen, die noch
       heute verblüfft.
       
       Im Roman lernt Thérèse die etwas ältere Isabelle auf dem Mädcheninternat
       kennen; sofort verbindet die beiden Mädchen eine neckisch, bisweilen sogar
       aggressiv anmutende Anziehung. Die Liebesgeschichte ist von Anfang an
       bedroht: von den Blicken der anderen, die die Mädchen entdecken könnten,
       aber auch von Thérèses Mutter, die das Mädchen jederzeit von der Schule
       nehmen könnte. Aber auch das Sexuelle selbst ist eine Bedrohung für
       Thérèse: „Ich fürchtete mich vor ihrer fleischigen Zunge: Das fremde
       Geschlecht kam nicht herein.“
       
       Während Thérèse in die doppelt fremde Welt der Sexualität und der
       verbotenen Homosexualität eintaucht, wiederholt der Leser dieses Eintauchen
       in die fremde Sprachwelt Leducs, die Sina de Malafosse kongenial übersetzt:
       „Mein Kopf war voller Erde“, angesichts solch unerwarteter Bilder zuckt man
       beim Lesen vor Erstaunen zusammen. Allerdings schürt die schier endlose
       Reihung mal verblüffender, mal gezwungener Metaphern auf die Dauer eine
       leichte Ermüdung.
       
       Nun kennt man aus der Metapherntheorie die Termini „Bildspender“ und
       „Bildempfänger“. So könnte man sagen, dass die Metaphern mehr leisten, als
       den schlichten sexuellen Vorgang in eine mal blumige, mal erdige Sprache zu
       überführen. Auf semantischer Ebene wiederholt sich, was die
       Protagonistinnen auf inhaltlicher Ebene vorführen: ein permanentes Geben
       und Nehmen, ein Aufnehmen und Empfangen, ein Abgeben und Spenden, von
       Worten, wohl wissend, dass Sprache unzulänglich ist: „Wir redeten. Das war
       schade. Aussprechen ist ein Ermorden.“
       
       Das Buch ist mit einem Nachwort von Carlo Jansiti versehen, der die
       Geschichte dieses nun erstmals in Originalform vorliegenden Textes erzählt.
       Sowohl das Thema als auch die explizite Schilderung von lesbischem Sex
       verstieß gegen die Moral der Zeit. Selbst die so berühmte Fürsprecherin des
       Textes, [2][Simone de Beauvoir,] wusste, dass der Versuch einer
       Veröffentlichung im Frankreich der 60er vergeblich war. Man kann es sich
       vorstellen, das Entsetzen der grau gekleideten Herren des Verlags.
       
       ## Keine Männerfantasie
       
       Heute, da lesbischer Sex kein Skandalon mehr ist, droht dem Text eine
       andere Gefahr: So stark sind die Klischees von lesbischem Sex, so fest
       etabliert ist das Genre auf Pornowebsites, deren Hauptkundenkreis eher
       heterosexuelle Männer sind, dass man den Text automatisch mit diesen
       Klischees abgleicht, obgleich das anachronistisch gedacht ist.
       
       Bei Leducs Heldinnen wird aber klar, dass sie nicht die Ausgeburt einer
       feuchten Männerfantasie sind; der Sex ist mal tastend, mal stürmisch,
       beinahe gewaltvoll, dann wieder zärtlich. Es geht um Reibung,
       zwischenmenschlich wie körperlich, ein Abtasten und Abarbeiten an der
       anderen.
       
       Spektakulär erscheint der Text dort, wo Leduc ein hochsensibles Auge für
       ereignishafte Momente hat. Eine abgebrochene Handlung, eine kleine
       Berührung, das Lösen einer Schleife an der Schürze der anderen, eine Hand,
       die sich in einen Perkalvorhang bohrt. Unter der Oberfläche schimmert eine
       psychoanalytische Grundierung der Motivation der Protagonistinnen durch,
       nämlich in Thérèses symbiotischem Verhältnis zu ihrer Mutter.
       
       ## Wände als Voyeure
       
       Die Bemerkungen über ihre Mutter bilden den eigentlichen Rahmen des Textes.
       „Meine Mutter hat geheiratet, meine Mutter hat mich betrogen“, heißt es zu
       Beginn, beinahe wortgleich kehrt die Formulierung zum Schluss wieder.
       Thérèse imaginiert sich als Liebhaber, als Ehemann ihrer Mutter.
       
       Immer wieder auch geht es um Blickbeziehungen, werden Vorhänge aufgezogen,
       fallen Haare über das Gesicht, muss man sich vor den Blicken schützen,
       werden selbst Wände und Möbel zu Voyeuren. „Das Tor zwischen unseren Augen
       öffnete sich: Wir fanden die Freiheit zu lieben und zu schauen wieder.“
       
       11 Jun 2021
       
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