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       # taz.de -- Mutmaßlicher Femizid in Italien: Eine Frau, die leben wollte
       
       > In Italien wurde eine Frau mutmaßlich getötet, weil sie eine Zwangsheirat
       > ablehnte. Der Verdächtige ist nach Polizeiangaben ein Angehöriger.
       
   IMG Bild: Die Suche nach Saman Abbas auf dem Hof Le Valli
       
       Ihr letztes Lebenszeichen war eine Sprachnachricht, gesendet am Abend des
       30. April an einen Freund: Wenn er binnen 48 Stunden nichts mehr von ihr
       höre, solle er zur Polizei gehen und ihr Verschwinden anzeigen, sagte die
       18-jährige Saman Abbas ihm. Denn sie glaubte, gehört zu haben, wie ihre
       Mutter sagte, „es ist nichts mehr zu machen“ – und verstand das als
       Beschluss, dass die Tochter ermordet werden soll. Dieser Mord wurde nach
       allem, was die Ermittler*innen bisher wissen, nur Stunden später
       vollstreckt.
       
       Die junge Pakistanerin nämlich hatte sich seit Monaten standhaft [1][einer
       Zwangsheirat in der fernen Heimat ihrer Eltern widersetzt]. Schon im
       November 2020 war sie von zu Hause geflohen, von jenem
       Landwirtschaftsbetrieb im Dorf Novellara in der norditalienischen Provinz
       Reggio Emilia. Dort arbeiteten ihr Vater, ihr Onkel, zwei ihrer Cousins auf
       den Feldern und in den Treibhäusern, dort wohnten sie auch.
       
       Die junge Frau hatte Zuflucht in einer beschützten Wohnung gesucht. Knapp
       drei Wochen vor ihrem vermutlichen Tod jedoch war sie zur Familie
       zurückgekehrt, wohl weil sie keine akute Gefahr vermutete – und weil sie
       ihren vom Vater einkassierten Personalausweis zurückholen wollte. Die Ämter
       waren weiter mit ihr im Kontakt, und am 22. April begab sie sich auf die
       örtliche Carabinieri-Wache, um den Entzug ihrer Personalpapiere durch die
       Eltern anzuzeigen. Tatsächlich fanden sich die Carabinieri dann am 5. Mai
       zur Hausdurchsuchung ein, doch da war es zu spät.
       
       Saman Abbas ist spurlos verschwunden, die Eltern sind Hals über Kopf nach
       Pakistan abgereist, der Onkel und einer der Cousins erklären den Beamten,
       die Frau habe am 30. April das Haus verlassen. Dann türmen auch sie,
       Richtung Frankreich. Die beiden Cousins sitzen mittlerweile in Haft,
       gesprochen hat bisher nur der 16-jährige Bruder des Opfers.
       
       ## Klare Worte von Islamgemeinden
       
       Er bestätigt, seine Schwester sei vom Onkel umgebracht worden, mit Wissen
       und Billigung der Eltern, auch wenn der Vater von Pakistan aus verlauten
       ließ, sie sei wohlauf in Belgien. Das glaubt keine*r, nicht zuletzt weil
       der Onkel sich in einem Chat rühmte, er habe „einen guten Job“ gemacht.
       Unerträglich war ihm, war auch Saman Abbas’ Eltern, eine Frau zu sehen, die
       den Schleier abgelegt hatte, sich schminkte und einen Freund hatte, die
       wieder zur Schule gehen wollte.
       
       Klare Worte fand der Verband der Islamgemeinden UCOII, der größte Italiens.
       Zwangsheiraten haben keine Legitimation aus der Religion, ließ er wissen.
       Und die Vizepräsidentin des Verbands, Nadia Bouzekri, erklärte in einem
       Interview mit der linken Tageszeitung il manifesto, es sei „unsere Aufgabe,
       die Risikofälle aufzuspüren und den Verbrechen vorzubeugen“.
       
       Das hinderte rechte Politiker wie den Lega-Chef Matteo Salvini nicht
       daran, seinerseits den Islam in Sippenhaft zu nehmen. Abbas sei zum Opfer
       geworden, weil sie sich einer „islamischen Hochzeit“ habe entziehen wollen.
       Und gleich darauf teilte Salvini gegen die italienische Linke aus: Die
       „Berufsempörten“ zeigten diesmal „kein besonderes Interesse“ an dem Fall,
       schlicht, „weil der islamische Integralismus dahinterstecken könnte“.
       
       Wenigstens dieser Beschwerde hat sich Nadia Bouzekri vom Verband der
       Islamgemeinden angeschlossen. Vorneweg beklagt sie den Wunsch der Rechten,
       „diesen Fall gegen die islamischen Gemeinden zu instrumentalisieren“, setzt
       aber nach: „Auf der Linken stelle ich ein noch besorgniserregenderes
       Schweigen fest.“
       
       ## Als Femizid eingeordnet
       
       In der Tat beschränken sich die Stellungnahmen etwa des Vorsitzenden der
       gemäßigt linken Partito Democratico, Enrico Letta, oder der linken
       Parlamentarierinnen Valeria Fedeli und Laura Boldrini darauf, [2][den Fall
       als Femizid einzuordnen]. Das stimmt – und ist doch zu kurz gesprungen.
       Ebenso stimmt es, dass „der Islam“ als Erklärung nicht taugt. Wohl aber ist
       die Frage erlaubt, was es mit traditionalistischen, ja archaischen
       Einstellungen auf sich hat und wo sie verbreitet sind.
       
       Es gehe nicht an, meint Cinzia Sciuto von der linken Debattenzeitschrift
       MicroMega, Frauen wie Saman Abbas „auf dem Altar des kulturellen
       Relativismus zu opfern.“
       
       10 Jun 2021
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Zwangsheirat-in-Deutschland/!5631787
   DIR [2] /Femizide-in-Deutschland/!5728408
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Michael Braun
       
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