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       # taz.de -- Staatspropaganda in Belarus: Ein wenig Hetze muss schon sein
       
       > Die Minsker*innen erhalten Rechnungen für kommunale Dienste. Da steht
       > noch mehr drauf. Janka Belarus über Minsk in stürmischen Zeiten. Folge
       > 91.
       
   IMG Bild: Sicherheitskräfte bei Demo in Minsk 2020
       
       Jeden Monat finden die Minsker*innen in ihren Briefkästen eine
       Benachrichtigung, wie viel sie für kommunale Dienstleistungen zu zahlen
       haben. Darin sind die Dienstleistungen aufgelistet, die im vergangenen
       Monat erbracht wurden: Gasversorgung, Wasserversorgung, Heizung und
       dergleichen. Diese Rechnungen müssen bis zum 25. des Folgemonats beglichen
       werden.
       
       Da alle Bewohner*innen der Stadt diese Papiere erhalten, hat die
       Staatsmacht beschlossen, sie auch zu Reklamezwecken zu benutzen. Es geht
       jedoch nicht darum, die Telefonnummern nützlicher Dienstleister aufzulsten,
       sondern „sozial bedeutsame Arbeit“ an der Bevölkerung zu leisten. Anders
       gesagt: Auf der Rückseite dieser Rechnungen haben sie begonnen, offene
       Propaganda abzudrucken.
       
       Im April erfuhren wir die ganze „Wahrheit“ über [1][die weiß-rot-weißen
       Flaggen]. Scheinbar ist das ein profitabler pseudohistorischer Mythos, der
       den Belaruss*innen und wer weiß wem sonst noch aufgezwungen worden sei.
       Unter dieser Flagge wurde viel Blut der Belaruss*innen von
       verschiedenen Banditengruppen sowie Verrätern und Henkern vergossen.
       
       Der Umstand, dass Alexander Lukaschenko seinen Amtseid unter der
       weiß-rot-weißen Staatsflagge abgelegt hat (das war im Jahr 1994, Anm. d.
       Red.), wird mit dem Druck nationalistischer Abgeordneter erklärt. „Aber die
       Menschen haben diesem Abenteuer ein Ende gemacht“, erläutert der anonyme
       Autor des „Meisterwerkes“.
       
       Daten landesweiter Meinungsumfragen werden ebenfalls bereitgestellt. 66,5
       Prozent der Befragten vertrauen dem belarussischen Präsidenten. 72,4
       Prozent der Belaruss*innen unterstützen die Protestaktionen nicht, die
       seit August 2020 im Land stattfinden. 57,8 Prozent der Befragten sind der
       Meinung, dass die Maßnahmen des Staates zur Unterdrückung der
       Straßenproteste gerechtfertigt sind.
       
       71,2 Prozent der befragten Belaruss*innen streben eine weitere
       Zusammenarbeit mit Russland an. 62,1 Prozent bewerten die weiß-rot-weiße
       Flagge als negativ. Ich rede mit vielen Menschen, aber keiner von meinen
       Bekannten hat an der Meinungsumfrage „Soziales Denken“ vom Januar/Februar
       teilgenommen. Wahrscheinlich hat diese Umfrage in einem anderen Belarus
       stattgefunden, wo den Menschen rechtliche Willkür gefällt und sie Teil von
       Russland werden möchten. Doch da lebe ich nicht.
       
       Unlängst bekam auch ich meine Rechnung über kommunale Dienstleistungen. Der
       kreative Autor hatte ein weiteres „Meisterwerk“ geschaffen. Er nennt das
       eine Antwort der Organe der Staatsmacht auf Aufrufe zu Sanktionen. Obwohl
       der belarussische Regierungschef Roman Golowtschenko noch vor Kurzem
       versichert hatte, dass die Sanktionen der Europäischen Union „keinerlei
       Bedrohung für die belarussische Wirtschaft darstellen“.
       
       Jetzt schreibt der anonyme Autor, dass die Aufrufe zu Sanktionen „purer
       Faschismus“ seien und spricht über eine Köchin, Verräter und
       „Kollaborationsbanner“. Offen beleidigt er Swetlana Tichanowskaja (Führerin
       der belarussischen Opposition im litauischen Exil, Anm d. Red.), Pawel
       Latuschko (ehemaliger Kulturminister in Belarus, Anm. d. Red.) und Roman
       Protassewitsch (belarussischer Blogger, der bei der Kaperung eines
       Flugzeuges am 23. Mai in Minsk festgenommen wurde, Anm.d. Red.)
       
       Hier ein Zitat, damit Sie die Silben und Intensität der Emotionen des
       Autors selbst einschätzen können: „Ein altes neues Mantra für geflohene
       Kriminelle und bunte westliche Demokratien. Seit einem Monat klopft die
       importierte belarussische Opposition an die Türen großer europäischer
       Büros, schleimt sich bei den Beamten ein und bettelt um „begehrte
       Sanktionen“.
       
       Am Ende fängt er wieder an, Schreckensszenarien an die Wand zu malen:
       „Einfach gesagt: Sanktionen, das bedeutet geschlossene Fabriken und
       Arbeitslosigkeit, das Ausbleiben von Renten, sozialer sowie anderer
       Zahlungen. Das bedeutet hungernde Kinder und Alte, die Umwandlung von
       Geschäften in Gastronomie-Museen wegen hoher Lebensmittelpreise.“
       
       Ehrlich gesagt, könnte man diese stammelnde Propaganda als lächerlich
       bezeichnen, aber dieses verschwendete Papier und diese verschwendete Tinte
       zielen auf Leute, die damit beschäftigt sind zu überleben. Daher glauben
       sie alle Fake-News, in denen ihnen erzählt wird, WER schuld daran ist, dass
       sie kaum über die Runden kommen.
       
       Jeder vernünftige Mensch sieht in diesem Text die Panik und Schwäche des
       Regimes. Purer Faschismus, das ist der Genozid am eigenen Volk, an seinem
       denkenden Teil. Und die Sanktionen sind die Folge dieses Faschismus. Für
       die gestohlenen Wahlen, die Festnahme zehntausender Menschen,
       [2][Misshandlungen und Morde].
       
       Bei mir und den Leser*innen taucht folgende legitime Frage auf: Wenn es
       um hungernde Kinder geht, wäre es da nicht vielleicht doch besser,
       Neuwahlen anzusetzen?
       
       Aus dem Russischen Barbara Oertel
       
       23 Jun 2021
       
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