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       # taz.de -- Geflüchtete in Tunesien: „Stiller Exodus, stilles Massaker“
       
       > Immer mehr Menschen aus Afrika bleiben bei ihrem Versuch, nach Europa zu
       > gelangen, in Tunesien hängen. Die Zahl der Toten auf dem Mittelmeer
       > steigt.
       
   IMG Bild: Teile von einem zerstörten Flüchtlingsboot treiben direkt vor der Küste von Zarzis, Tunesien
       
       Tunis taz | Es war [1][nicht das erste Unglück dieser Art]: Bei einer
       Havarie eines Fischerbootes vor der Hafenstadt Sfax kamen am Mittwoch
       mindestens 23 Menschen ums Leben. Nach Angaben der tunesischen Küstenwache
       konnte die Besatzung eines Patrouillenbootes 70 Menschen aus dem Mittelmeer
       retten, nachdem das von Schmugglern gecharterte Boot aus bisher unbekannten
       Gründen gekentert war. Die Überlebenden werden in Krankenhäusern und von
       der Hilfsorganisation Roter Halbmond betreut.
       
       Mongi Slim, Leiter des Büros des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten
       Nationen (UNHCR), warnt vor einer dramatischen Zuspitzung der Lage in
       Südtunesien. „Es kommen jeden Tag mehr Menschen zu Fuß über die libysche
       Grenze, die Kapazität der Unterbringungen in Tunesien ist überschritten.“
       
       In Medenine und Zarzis, unweit der libyschen Grenze, betreiben das UNHCR
       und die Organisation für Migration IOM zwei Lager für Flüchtende. Die
       Mehrheit der nach Tunesien geflohenen Menschen aus Subsahara-Afrika lebt
       jedoch in privaten Unterkünften und schlägt sich ähnlich wie in Libyen als
       Tagelöhner durch. Doch anders als in dem ölreichen Nachbarland, finden
       selbst Einheimische spätestens seit der Coronakrise kaum noch Arbeit.
       
       Wegen der Spannungen zwischen Migranten und Tunesiern lehnte bisher jede
       tunesische Regierung die von der EU geforderten Asylcenter ab. Doch zur
       Zeit verhandelt Brüssel mit dem tunesischen [2][Regierungschef Hichem
       Mechichi], um die Zahlungsunfähigkeit des Landes mit einem Kredit zu
       verhindern. Im Gegenzug soll Tunesien abgelehnte Asylbewerber aufnehmen und
       sich von der Idee der Asylcenter überzeugen lassen.
       
       ## Mit dem Taxi zum Grenzübergang
       
       Mehr als doppelt so viele Tunesier wie im Vorjahreszeitraum kamen bis Ende
       Mai 2021 in Italien an. Jede Nacht fängt die tunesische Armee mehrere
       Dutzend Menschen in dem von einem mit deutschen und amerikanischen
       Spezialisten entworfenen Grenzwall gesicherten Niemandsland zwischen
       Mittelmeer und Sahara ab. Viele Westafrikanerinnen lassen sich aus Angst
       vor den libyschen Milizen mit Taxis von Tripolis in die Nähe des
       Grenzüberganges Ras Jadir bringen und versuchen in Nachtmärschen, unbemerkt
       nach Tunesien zu gelangen.
       
       Die Nigerianerin Queen hat sich auf die rund 30 Kilometer lange Strecke
       entlang der Mittelmeerküste mit ihrem fünfjährigem Sohn Michael im Arm
       gewagt. Obwohl sie schwanger war, hatten Milizionäre aus der libyschen
       Hafenstadt Zuwara die 30-Jährige auf offener Straße entführt und
       eingesperrt. „Für die Geburt meines Sohnes haben sie mich in das örtliche
       Krankenhaus gebracht, aber die Ärzte ließen mich bei der Geburt praktisch
       alleine.“
       
       Nach Angaben der IOM starben 2019 mehr als 1.200 Menschen in dem Seegebiet
       vor Libyen und Tunesien. Die tatsächliche Opferzahl ist in diesem Jahr wohl
       sehr viel höher, da die Schlauchboote aus Libyen oft unerkannt ablegen. Die
       mit durchschnittlich 100 Insassen überladenen Boote kentern im Falle eines
       Luftverlustes oft in wenigen Stunden oder überschlagen sich durch
       Wellengang. Von zahlreichen unentdeckten Unglücken zeugen oft nur auf dem
       Wasser treibende Benzintanks oder Holzbretter, die den Unterboden der in
       der Türkei oder China hergestellten Schlauchboote verstärken.
       
       „Ein stiller Massenexodus und ein stilles Massaker“, sagt Queen, die
       zusammen mit ihrem Freund und ihrem Sohn eine kleine Wohnung in der
       tunesischen Küstenstadt Zarzis gemietet hat. Die aus der Biafra-Provinz
       stammende Frau verdient als Putzfrau gerade mal genug, um ihre kleine
       Familie zu ernähren. Der Vater ihres Sohnes verließ sie auf der gemeinsamen
       Reise durch Libyen, als sie schwanger wurde. In einem Aufnahmelager in
       Zarzis lernte sie Emmanuel kennen, der ebenfalls aus Biafra stammt.
       
       ## Kein vor und kein zurück
       
       Der ruhige 35-Jährige versucht in Zarzis als Friseur über die Runden zu
       kommen, einen im letzten Jahr eröffneten Kiosk musste er aufgrund der
       Umsatzeinbußen während des Coronabedingten Lockdowns wieder schließen. In
       ihm brodelt es, als er auf die Hilfe der nigerianischen Botschaft für die
       in Tunesien gestrandeten Landsleute angesprochen wird. „Ein
       Botschaftsangehöriger kam mit umgerechnet 5 Euro Unterstützung pro Kopf.
       Davon können wir uns gerade mal einen Tag ernähren“, sagt er. „Wer wie wir
       aus Biafra stammt, erhält von der Botschaft in Tunis auch keine
       Ersatzdokumente – die Voraussetzung für eine Rückkehr in die Heimat.“
       
       Emmanuel und Queen hängen nun wie mehrere Tausend in Zarzis oder Sfax fest,
       denn auch der tunesische Staat verweigert ihnen einen legalen Status. Ein
       neues Asylgesetz wird seit Jahren im Parlament verhandelt, die
       Verabschiedung liegt nach Meinung vieler tunesischer
       Menschenrechtsaktivisten noch in weiter Ferne. Nicht nur die aus Libyen
       Geflohenen sind bereits vor der Ankunft in Europa „sans papiers“,
       Dokumentenlose.
       
       Der in Frankreich übliche Begriff für das Heer der Rechtslosen gilt nun
       auch in der ehemaligen französischen Kolonie Tunesien. Alleine in der
       200.000-Einwohnerstadt Zarzis bieten sich zur Zeit bis zu 5.000 Migranten
       für Hungerlöhne an und machen den vielen [3][tunesischen Arbeitssuchenden]
       Konkurrenz. Das Lohnniveau liegt im informellen Sektor oft noch unter dem
       Mindestlohn von umgerechnet 150 Euro im Monat.
       
       Mohamed Ajilar hatte vor der Coronakrise und den Anschlägen auf Touristen
       im Jahr 2015 in den All-Inklusive-Hotelburgen gut verdient. Nun kann er von
       seinem Lohn als Kellner kaum noch die Miete für seine WG zahlen. Sieben Mal
       hat er bereits die Überfahrt nach Europa gewagt, einmal musste der gelernte
       Tischler zurück nach Djerba schwimmen, weil das Boot kenterte. Lokale
       Medien bestätigen der taz seine Behauptung, er sei von den elf Passagieren
       an Bord der einzige Überlebende gewesen.
       
       Als er einmal von einem Schmuggler in das libysche Zuwara gelockt worden
       war, stand er nach zwei Wochen Wartens auf ruhiges Wetter eines Abends mit
       unzähligen Westafrikanern und einem Schlauchboot am Strand. Mohamed kniff
       und ließ sich nach Zarzis zurückfahren.
       
       5 Jun 2021
       
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