URI: 
       # taz.de -- Anonymität von Aktivist:innen: Innenminister gegen Fingerkleberei
       
       > Aktivist:innen verkleben bei Protesten ihre Fingerkuppen, um nicht
       > identifiziert zu werden. Die Innenminister wollen dagegen nun vorgehen.
       
   IMG Bild: Abgeklebte Fingerkuppen: Beliebtes Mittel, um die eigene Identität vor der Polizei zu schützen
       
       BERLIN taz | Anfang Juni erst rang die Polizei in Berlin mit mehreren
       Dutzend [1][Besetzer:innen einer Baustelle für die A100-Autobahn]: Die
       Aktivist:innen hatten ihre Fingerkuppen mit Klebstoff verklebt, um
       nicht erkannt zu werden. Die Polizeibeamten fertigten schließlich
       Videoaufnahmen, um die Personen später zu identifizieren – und ließen sie
       nach Ende der Blockade gehen.
       
       Die Praxis ist inzwischen geläufig bei linken Besetzungsaktionen, etwa bei
       den Aktivist:innen von „Ende Gelände“ in Tagebauen oder dem Protest im
       Dannenröder und Hambacher Forst. [2][Fingerkuppen werden mit Sekundenkleber
       bestrichen] oder mit Rasierklingen eingeritzt, damit die Polizei keine
       Fingerabdrücke nehmen kann. Ausweise bleiben zu Hause, teils werden noch
       Gesichter geschminkt.
       
       Für die Polizei ist das schon länger ein Ärgernis. Nun reagieren die
       Innenminister. Auf ihrer halbjährlichen [3][Innenministerkonferenz] (IMK),
       die am Mittwochabend in Rust (Baden-Württemberg) begann, soll ein
       schärferes Vorgehen gegen die Aktivist:innen vereinbart werden. Es
       brauche „eine Erweiterung und Erhöhung des Sanktionsrahmens“ für jene, die
       ihre Identität vorsätzlich gegenüber Amtsträgern „durch Manipulation
       körperlicher Identifizierungsmerkmale“ verschleierten, heißt es in einer
       Beschlussvorlage, die der taz vorliegt. Zudem sollen Gewahrsamnahmen zur
       Identitätsfeststellung über die bisherigen 12 Stunden hinaus möglich sein.
       
       ## „Zu seiner Meinung stehen“
       
       Baden-Württembergs Innenminister Thomas Strobl (CDU), diesmal
       IMK-Gastgeber, macht Druck. „Es macht den Kern unserer Demokratie aus, dass
       wir Argumente und Meinungen offen austauschen“, so Strobl zur taz. „Wer
       politisch aktiv ist, soll für jeden erkennbar zu seiner Meinung stehen –
       und nicht feige Fingerkuppen überkleben, um seine Identität zu
       verschleiern.“
       
       Die Aktivist:innen sehen in dem Vorstoß dagegen eine Kriminalisierung
       ihres Protests. „Wir sind mitten in der Klimakrise und trotzdem wird unser
       Protest durch neue Maßnahmen immer weiter kriminalisiert“, erklärte Kim
       Solievna, Sprecherin von Ende Gelände, der taz. „Das ist undemokratisch und
       skandalös im Angesicht der sich weiter verschärfenden Erderhitzung und des
       zerstörerischen Kapitalismus. Ziviler Ungehorsam bleibt legitim.“
       
       Konkret wollen die Innenminister Paragraf 111 des
       Ordnungswidrigkeitsgesetzes verschärfen. Über diesen können schon jetzt
       Geldbußen bis zu 1.000 Euro verhängt werden für Personen, die Amtsträgern
       ihre Personalien verweigern oder falsch benennen. Den Innenministern reicht
       das nicht. Einen neuen Höchstsatz lässt der Beschlussentwurf aber vorerst
       offen.
       
       ## Mehr als 12 Stunden Gewahrsam
       
       Verschärft werden soll auch Paragraf 163c der Strafprozessordnung, der
       festhält, dass Personen für Identitätsfeststellungen nicht länger als zwölf
       Stunden in Polizeigewahrsam bleiben dürfen. Die IMK will diese Grenze
       streichen: Auch längere Freiheitsentziehungen seien „in eng umgrenzten
       Ausnahmefällen“ und „zur effektiven Gewährleistung und Durchsetzung des
       Strafverfolgungsinteresses des Staates“ erforderlich, heißt es in der
       Beschlussvorlage. Dafür sollen auch die JustizministerInnen von Bund und
       Ländern eingespannt werden. Längere Gewahrsamnahme, etwa wenn auch
       schwerere Straftaten vorgeworfen werden, sind auch heute schon möglich,
       aber nur mit Richterentscheidung.
       
       Ende Gelände verteidigt dagegen sein Vorgehen. „Die Maßnahmen, die wir
       gezwungen sind zu ergreifen, um unsere Identität zu schützen, sind der
       ständigen Kriminalisierung zum Beispiel durch die Beobachtung durch den
       Verfassungsschutz, aber auch den Bedrohungen von rechts geschuldet“,
       erklärt Solievna. Sie dienten zudem dem „Schutz vor
       Einschüchterungsversuchen seitens Konzernen.“
       
       NRW hatte schon [4][2018 sein Polizeigesetz verschärft] und – auch wegen
       der Proteste in Tagebauen und im Hambacher Forst – den Polizeigewahrsam zur
       Identitätsfeststellung auf bis zu sieben Tage verlängert. Auch nach den
       Aktionen im Dannenwalder Forst in Hessen saßen einige Aktivist:innen,
       die ihre Identität nicht preisgaben und denen schwerere Straftaten
       vorgeworfen werden, [5][länger in Haft]. Für eine junge Frau gilt das seit
       November bis heute.
       
       ## Ziviler Ungehorsam
       
       Erst am Dienstag hatten Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) und
       Verfassungsschutzchef Thomas Haldenwang bei der Vorstellung des
       [6][Verfassungsschutzberichts] auch vor radikalem Klimaprotest gewarnt.
       Linksextreme instrumentalisierten den Klimaschutz und verschöben den
       demokratischen Diskurs, heißt es in dem Bericht. Ende Gelände wird dabei
       eine „maßgebliche Rolle“ zugeschrieben. Auch im Dannenröder Forst seien
       Arbeiter und Polizisten angegriffen, Baumaschinen angezündet oder Fallen
       gelegt worden.
       
       Ende Gelände beruft sich mit seinen Aktionen dagegen auch auf das höchste
       deutsche Gericht. „Das [7][Bundesverfassungsgericht] hat deutlich gemacht,
       dass der Staat nicht genug für den Klimaschutz tut“, so Sprecherin
       Solievna. „Mit unserem Protest nehmen wir deshalb den Kampf für mehr
       Klimagerechtigkeit selber in die Hand.“
       
       16 Jun 2021
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Aktionstage-fuer-Verkehrswende/!5776491
   DIR [2] /Ziviler-Ungehorsam-bei-Ende-Gelaende/!5443846
   DIR [3] /Verfassungsschutzbericht-vorgestellt/!5775101
   DIR [4] /NRW-verschaerft-Polizeigesetz/!5555983
   DIR [5] /Nach-der-Raeumung-des-Dannenroeder-Forstes/!5756251
   DIR [6] /Verfassungsschutzbericht-vorgestellt/!5775101
   DIR [7] /Entscheidung-zum-Klimaschutzgesetz/!5763553
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Konrad Litschko
       
       ## TAGS
       
   DIR Extinction Rebellion
   DIR Polizei
   DIR Dannenröder Forst
   DIR Aktivismus
   DIR Schwerpunkt Hambacher Forst
   DIR Schwerpunkt Ende Gelände!
   DIR Innenministerkonferenz
   DIR Schwerpunkt Klimawandel
   DIR Parlament
   DIR IG
   DIR Schwerpunkt Klimawandel
   DIR Schwerpunkt AfD
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Verschärftes Polizeigesetz in NRW: Vor allem Klimaaktivistis im Visier
       
       Das neue Polizeigesetz in NRW wurde offiziell mit dem Kampf gegen Terror
       begründet. Doch in Langzeitgewahrsam landen vor allem Klimaaktivist:innen.
       
   DIR Strafverfolgung eines Linkenabgeordneten: Repression gegen Beobachter
       
       Ein parlamentarischer Beobachter muss vor Gericht, weil er Klimaproteste
       begleitet hat. Die Linke will nun die Rechte von Abgeordneten stärken
       
   DIR Streitgespräch zwischen Linksradikalen: „Der Klassenfeind ist organisiert“
       
       Halil Simsek ist beim antiimperialistischen Roten Aufbau, Christoph Kleine
       bei der postautonomen Interventionistischen Linken. Ein Streitgespräch.
       
   DIR Aktivismus in Baumkronen: Die Bäume denen, die drin wohnen
       
       Waldbesetzungen haben derzeit Konjunktur. Aber sind sie immer legitim? Und
       ab wann zählen ein paar Bäume überhaupt als Wald?
       
   DIR Fridays for Future in Bitterfeld: Jonas gibt nicht auf
       
       Manchmal steht Jonas Venediger ganz allein mit seinem FFF-Plakat für
       Klimaschutz in der AfD-Hochburg Bitterfeld-Wolfen. Immer wieder setzt er
       sich dem Hass aus.