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       # taz.de -- 30 Jahre Hauptstadtbeschluss: Adieu, Berliner Tristesse!
       
       > Vor 30 Jahren kürte der Bundestag Berlin zur neuen Hauptstadt. Das
       > Ergebnis war denkbar knapp. Was, wäre Bonn Hauptstadt geblieben?
       
   IMG Bild: Beim Palast der Republik hat das mit dem Zusammenwachsen nicht geklappt
       
       Es war das Bild eines erwachenden Riesen, das Norbert Blüm an die Wand
       malte. „Sechs Millionen Einwohner rechnen heute schon Fachleute in wenigen
       Jahren für Berlin aus“, betonte der CDU-Arbeitsminister in der
       Bundestagsdebatte am 20. Juni 1991. „Schon spricht man mit neuem
       Selbstbewusstsein von der größten Industriestadt zwischen Atlantik und
       Ural.“ Und dann ließ Blüm die Katze aus dem Sack. „Wozu, so frage ich, dazu
       noch – und mittendrin – Regierungs- und Parlamentssitz?“
       
       Norbert Blüm gehörte vor dreißig Jahren zu jener Gruppe von Abgeordneten,
       die sich gegen Berlin als neue Hauptstadt des wiedervereinigten Deutschland
       ausgesprochen hatte. Seiner Auftaktrede im zum Parlament umgebauten
       ehemaligen Bonner Wasserwerk folgte eine der hitzigsten Debatten der
       deutschen Parlamentsgeschichte. 104 der 660 Abgeordneten meldeten sich zu
       Wort, bevor Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth nach elf Stunden um 21.17
       Uhr das überraschende Ergebnis bekannt gab. 320 Abgeordnete plädierten für
       den Verbleib von Parlament und Regierung in Bonn. 338 stimmten für einen
       Umzug nach Berlin. Es folgten Tränen der Freude und Tränen der
       Enttäuschung.
       
       Was aber wäre gewesen, wenn Wolfgang Schäuble nicht mit einer ungewöhnlich
       emotionalen Rede die Unentschlossenen auf die Berliner Seite gezogen hätte?
       Wie würde Berlin, von dem Blüm behauptete, es habe den Hauptstadtstatus
       ohnehin nicht nötig, heute aussehen, wenn der Bundestag und die Ministerien
       in Bonn geblieben wären? Und ist wahr geworden, wovor nicht nur Blüm
       gewarnt hatte? „Mit Bonn verbindet sich der demokratische Neuanfang unserer
       Geschichte“, sagt der Arbeitsminister am Ende seiner Rede. „Mit Bonn
       verbindet sich die friedlichste und freiheitlichste Epoche unserer
       Geschichte. Sie soll nie zu Ende gehen.“
       
       Berlin als Hauptstadt eines wiedervereinigten Deutschland, das trieb nicht
       nur einem rheinischen Christdemokraten wie Blüm Sorgenfalten auf die Stirn.
       Auch das europäische Ausland war skeptisch. Margaret Thatcher hatte sogar
       die Wiedervereinigung torpedieren wollen, damit Berlin nicht zum neuen
       Machtzentrum Europas werden würde. Und mitten im hitzigen Architekturstreit
       der 90er Jahre unkte der britische Independent, Berlin werde wieder zu
       einer „Knobelbecher-Stadt, an der Hitler seine Freude gehabt hätte“.
       
       Nicht nur die Autonomen, die am 3. Oktober 1990 mit der Parole
       „Deutschland, halt’s Maul“ durch die Straßen gezogen waren, warnten vor
       einem Erstarken des Nationalismus, sondern auch SPD-Politiker wie Peter
       Glotz. Der sagte am 20. Juni 1991: „Wer den Parlaments- und Regierungssitz
       in eine Metropole und dann noch in die größte des Landes legt, der
       organisiert einen Sog in diese Stadt, und der will auch einen Sog in diese
       Stadt organisieren.“
       
       Zeitsprung. Fast 30 Jahre später meldet der NDR am 14. Oktober 2018. „Etwa
       250.000 Menschen haben nach Veranstalterangaben in der Hauptstadt für eine
       offene und solidarische Gesellschaft demonstriert. Das zuständige Bündnis
       ‚Unteilbar‘ zeigte sich von der Zahl überwältigt.“
       
       Mitten im Erstarken einer neuen rechten Bewegung zeigte die Hauptstadt
       Flagge und damit auch ein ganzes Land. Anders als von den Bonn-Vertretern
       an die Wand gemalt, ist aus der Hauptstadt keine Gefahr für den deutschen
       Föderalismus geworden und auch keine für Europa, sondern eine offene,
       lebendige und – auch das – für viele nicht mehr bezahlbare Metropole.
       
       Und natürlich steht Berlin – auch geografisch, mittendrin im Zentrum der
       Debatte um die drängenden Fragen der Zeit, wozu auch die Erfolge der AfD
       vor allem in den ostdeutschen Bundesländern gehören. Wie würden die
       AfD-Ergebnisse aber aussehen, wäre nicht Berlin Hauptstadt geworden? Welche
       Parolen wären zu hören, wenn Parlament und Regierung in Bonn geblieben
       wären? Tief im Westen und abgehängt im Osten, hätte dem Land womöglich eine
       neue Spaltung gedroht?
       
       Es waren vor allem die Abgeordneten der PDS, die vor 30 Jahren vor solchen
       Folgen gewarnt hatten. Gregor Gysi etwa plädierte leidenschaftlich für
       einen Umzug nach Berlin. „Ich glaube, das ist ein Akt der Glaubwürdigkeit,
       ein Signal für die neuen Bundesländer, ein Bekenntnis, Probleme wirklich
       anzugehen und auch Unbequemlichkeiten dabei in Kauf zu nehmen.“
       
       Für die PDS war die Entscheidung für Berlin ein Schritt für das
       Zusammenwachsen der alten Bundesrepublik und der ehemaligen DDR. Für andere
       dagegen war die Bundeshauptstadt Berlin auch mit der Gefahr des Zuzugs der
       „Bonner Beamten“ und steigender Mieten verbunden. Selbst der Spiegel warnte
       nach der historischen Entscheidung für Berlin: „Der multikulturellen
       Metropole des Ostens stehen neue Gründerjahre bevor; sie haben bereits
       begonnen, mit allen irritierenden Begleiterscheinungen: Berlin wird zum
       Dorado der Investoren wie zum Mekka der Armen, am Ende werden neben
       funkelnden Hochhäusern auch viele Suppenküchen stehen.“
       
       Auch Berlins Regierender Bürgermeister Eberhard Diepgen (CDU) sah die
       Gefahren einer auseinanderfallenden Stadt und warnte vor „sozialen Unruhen
       als Folge von Arbeitslosigkeit und der Steigerung von Miet- und
       Energiekosten“. Allerdings würden mit dem Umzug von Parlament und Regierung
       die Entscheider die Probleme vor Ort sehen und nicht aus dem fernen Bonn.
       Das war der Beginn der Argumentation, dass sich der Bund seiner Hauptstadt
       verpflichtet sehen müsse, auch finanziell.
       
       Und so ist es auch gekommen. Der Bund baute Wohnungen für seine Beamten in
       Berlin, die Ministerien kamen größtenteils in bestehenden Gebäuden und
       nicht in Neubauten unter, und alles, worüber gestritten wurde, regelte
       irgendwann der Hauptstadtvertrag.
       
       Doch nirgendwo bekannte sich der Bund so sehr zu Berlin wie in der Kultur.
       In die Obhut und damit die finanzielle Verantwortung des Bundes gingen das
       Jüdische Museum, die Akademie der Künste, die Stiftung Deutsche Kinemathek,
       das Haus der Berliner Festspiele, der Gropius Bau sowie das Haus der
       Kulturen der Welt. Der Bund engagierte sich in der Sanierung der
       Museumsinsel und zahlt für das Museum der Moderne. Über den
       Hauptstadtkulturfonds können Fördermittel beantragt werden. Die
       Bundeskulturstiftung finanzierte Forschungs- und Ausstellungsprojekte wie
       die „Schrumpfenden Städte“. Wäre Bonn Hauptstadt geblieben, wäre Berlin
       zwar keine kulturelle Wüste, aber weiterhin nur sexy und arm.
       
       Eine „wunderbare Katastrophe“ nannte der Spiegel damals den
       Hauptstadtbeschluss. Und die Katastrophenstimmung in Berlin hielt sich in
       Grenzen. Zur Demo gegen eine drohende „Machtzentrale Berlin“ zog es am Tag
       der Abstimmung nur 400 Demonstranten auf den Ku’damm. Vielleicht auch
       deshalb, weil den Berlinerinnen und Berlinern zu dieser Zeit etwas anderes
       mehr auf den Nägeln brannte. Die Berliner Olympiabewerbung mobilisierte
       weitaus mehr Menschen als die Angst vor dem Hauptstadtsein.
       
       20 Jun 2021
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Uwe Rada
       
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