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       # taz.de -- Überfall auf die Sowjetunion 1941: Blutiges Erbe
       
       > Der Vernichtungskrieg ist viel zu monströs, als dass man ihn begreifen
       > könnte. Man muss es trotzdem versuchen.
       
   IMG Bild: Sowjetische Gefangene an einer Sammelstelle, 1941
       
       Wer nach dem Krieg geboren oder aufgewachsen ist und sich auch nur ein
       wenig dafür interessiert hat, was „im Osten“ geschehen ist, dem haben sich
       die Bilder eingebrannt: von den Ruinenlandschaften, Städten wie Minsk, über
       die zweimal die Walze des Kriegs hinweggerollt war, die Filmaufnahmen vom
       Pogrom in Kaunas, den Massenerschießungen von Juden im kurländischen Libau,
       von den Hunderttausenden gefangenen Rotarmisten, die auf blanker Erde
       zusammengepfercht Krankheit und Tod ausgeliefert waren, von den Galgen, die
       überall errichtet waren, wo es Partisanen gab oder es danach aussah, von
       den zerstörten Fabriken, die alles zunichte gemacht hatten, was in einer
       beispiellosen Kraftanstrengung in den Vorkriegsjahren aufgebaut worden war.
       
       Wir haben die Statistiken im Kopf mit den unfassbaren Zahlen der Opfer
       unter Zivilisten und Militär. [1][Wir sehen die Leningrader, die ihre Toten
       auf Schlitten über die vereisten Straßen ziehen,] und die Rauchwolken über
       den von Stukas in Brand geschossenen Lebensmittelmagazinen.
       
       Wir sehen die Restauratoren in den Gewölben der Eremitage, die die
       Kunstschätze packen für die Evakuierung in den Ural, den Platz vor der
       Isaaks-Kathedrale, auf dem nun Kohl gepflanzt wird; und doch gibt es
       Schostakowitschs „Leningrader“1. Und vor allem: Wir sehen vor der
       Schneelandschaft die wie Säulen in den Himmel ragenden Schornsteine der
       niedergebrannter Dörfer. Das weite Land entvölkert. Abermillionen auf der
       Flucht, Tausende von Fabriken ostwärts verfrachtet. „Alles für die Front!“.
       
       Wir haben nicht alles, aber viel gelesen, und wir haben verstanden, dass es
       nicht allein Diktatur und Stalins Befehl Nr. 227 „Kein Schritt zurück“ war,
       sondern Not, Überlebenskampf, Heimatliebe, Hass auf einen Eindringling, der
       nicht einmal erklären konnte, was er dort zu suchen hatte. Wir haben die
       Geschichte und die Theorien studiert, die uns erklären wollen, wie es dazu
       kam: zum Weltkrieg, zum Überfall auf die Sowjetunion, zur Schoah.
       
       Aber sie kommen nicht heran an das Erleben derer, die in diese heillose und
       furchtbare Geschichte hineingezogen, in ihr umgebracht worden oder
       umgekommen sind. Es gibt eine unüberschreitbare Mauer in der Verständigung
       zwischen einer so erfahrungsarmen Generation wie der meinen und jenen, die
       alles, was das Jahrhundert an Katastrophen bereit hielt, durchlebten oder
       darin zugrunde gingen.
       
       ## Auf den Straßen von Kiew und Kursk
       
       Ich war 1966 zum ersten Mal in der Sowjetunion (in einer Schülergruppe aus
       einem bayerischen Benediktiner-Internat). Zwei der Lehrer waren in
       russischer Kriegsgefangenschaft gewesen, hatten Russisch gelernt und
       sprachen bewegt von dem „russischen Menschen“, der ihnen geholfen hatte,
       lebend davonzukommen.
       
       Auf den Straßen von Kiew und Kursk sah man damals noch die vom Krieg
       Verstümmelten, auf ihren hölzernen Wägelchen rollend und sich mit
       verbundenen Händen vorwärts stoßend. Auf den Campingplätzen traf ich auf
       Kriegsveteranen, die mich ins Zelt baten, weil sie mit dem Deutschen reden
       und ihn wohl auch testen wollten, wie viel er vom Kräuterschnaps vertrug.
       
       So weit ich mich erinnern kann, bin ich nie als Deutscher geschnitten
       worden. Ich kann mir bis heute diese merkwürdige Großzügigkeit nicht recht
       erklären, waren sie es doch, die nach 1945 um die Früchte ihres Sieges
       gebracht worden waren, während die Feinde von gestern sich fast alles
       leisten konnten.
       
       ## Kinder mit Knochen in der Hand
       
       Ich habe die vom Krieg verheerten Orte gesehen, die Denkmäler und Dioramen
       in Sewastopol und Dnipropetrowsk, die von einem Gitter oder Mäuerchen
       eingefassten Grabstätten für Rotarmisten in fast jeder Siedlung im
       ehemaligen Kriegsgebiet. Auf der Datscha an der Moschajsker Chaussee kamen
       die Nachbarskinder manchmal mit Menschenknochen aus dem Wald zurück –
       Überreste der Schlacht um Moskau.
       
       Alle Orte hatten ihre besondere Bedeutung: Brest, wo die Gleise breiter
       wurden, war der Ort der gemeinsamen Parade von Wehrmacht und Sowjetarmee
       nach der Zerschlagung Polens im September 1939 und nach dem 22. Juni 1941
       der Ort des Kampfs „bis zum letzten Tropfen Blut“ gegen die Deutschen! Wer
       vom Flughafen in Scheremetjewo ins Moskauer Zentrum fuhr, passierte die
       Panzersperren. Der Krieg war allgegenwärtig. Bei den Treffen der Veteranen
       im Gorki-Park, wo sie sich zum Tanz einfanden. Oder in der Literatur:
       Konstantin Simonow, Wiktor Nekrassow, Daniil Granin, Lidia Ginsburg.
       
       Später traf ich den Historiker Alexander Nekritsch, der in den sechziger
       Jahren die Legende von Stalin als militärischem Genie infrage gestellt
       hatte und dann ins Exil nach Harvard gegangen war. Ich lernte bei der
       Vorbereitung der „Berlin – Moskau“ Irina Antonowa, die Direktorin des
       Puschkin-Museums kennen (und schätzen), die als junge Frau ins besetzte
       Berlin gekommen war, um Kunstobjekte zu requirieren.
       
       ## Großer Terror, Gulag und Verbannung
       
       Die Gespräche in Moskau, Leningrad und Kiew in den Achtzigern drehten sich
       allerdings weit mehr um die Gewalt im Lande selbst, um die innere
       Verwandtschaft der Diktaturen Hitlers und Stalins, die Schicksale, die mit
       dem Großen Terror, dem Gulag und der Verbannung verbunden waren.
       
       Für die meisten überdeckte der [2][Große Vaterländische Krieg] den Krieg,
       den Stalin gegen das eigene Volk lange vorher entfesselt und nach dem Sieg
       über Hitler wieder aufgenommen hatte, mit der Deportation ganzer Völker,
       der Deportation von Hunderttausenden aus dem „befreiten“ Baltikum und der
       Ukraine, der Bestrafung von Hunderttausenden der in ihre Heimat
       zurückgekehrten Zwangsarbeitern und Kriegsgefangenen, die als
       Vaterlandsverräter verdächtigt worden waren.
       
       Es war mir bei meinen Reisen seit den siebziger Jahren nicht klar, dass ich
       mich auf den Spuren meines Vaters bewegte, der – bis auf ein Jahr in
       Belgien und Frankreich – an der „Ostfront“ im Einsatz war. Wie viele meiner
       Generation, die alles besser und sich auf der richtigen Seite der
       Geschichte wussten, war es bald zum Bruch gekommen. Man schwieg, wo es
       besser gewesen wäre, nachzubohren und zuzuhören.
       
       Aber ich, der marxistisch aufgeklärte und moralisch überlegene Sohn, war an
       dem Gespräch mit dem Vater, dem vor dem Krieg jungen, angehenden Hoferben
       aus dem Allgäu, nicht mehr interessiert. Sogar in der scheinbar von
       Kriegsschrecken so abgelegenen Gegend gab es Spuren, die in „den Osten“
       führten – auf den Friedhöfen gab es die Schilder mit der Zeile „gefallen im
       Osten“, und viele im Dorf erinnerten sich noch an „den Ukrainer“, „die
       Ukrainerin“, die als Ersatz für die Männer an der Front Zwangsarbeit
       leisteten – mehr als zwei Millionen Menschen waren aus der Ukraine ins
       Reich deportiert worden.
       
       ## Die Erinnerung an Weizenfelder
       
       Der Vater hätte mir vielleicht sagen können, was er mit eigenen Augen
       gesehen hat. Als „Kulak“2 hatte er einen Horror vor Kollektivierung und
       Kolchosen, er schwärmte auch später noch von den Weizenfeldern in der
       Ukraine und machte sich tatsächlich noch einmal dorthin auf den Weg, wo er
       vierzig Jahre zuvor gewesen war: Kiew, Dnipropetrowsk, Odessa, Rostow,
       Wolga-Don-Kanal – Stalingrad, das nun Wolgograd hieß. Von der Schiffstour
       gibt es Fotos mit Neptunfest an Bord.
       
       Erst nach seinem Tod habe ich seine Stationen an der Ostfront im Wehrpass
       aufgelistet gefunden, sie decken sich exakt mit den Daten der
       Militärhistoriker. Mein Vater kam bis Stalingrad, wurde aber ausgeflogen,
       bevor der „Kessel“ geschlossen wurde. Er hatte die Ortsnamen, die über
       Leben und Tod entschieden, immer parat: Stalino (heute Donezk), Kalatsch,
       Gumrak, Rostow, Charkiw.
       
       Meine späteren Reisen bewegten sich in dem von Krieg und Völkermord
       kontaminierten Gelände. Ich kam nach Lwow/Lwiw, weil ich die
       Vielvölkerstadt Lemberg suchte und stieß auf die Massaker des NKWD3 und die
       Judenpogrome des ukrainisch-nationalistischen Mobs. Ich kam nach Brody auf
       der Suche nach der Schule Joseph Roths, wusste aber nichts von der
       mörderischen Kesselschlacht und den Abertausenden sowjetischen
       Kriegsgefangenen.
       
       ## Zum ersten Mal in Babi Jar
       
       Ich kam nach Kiew, wo der Campingplatz in Darnitsa nicht weit entfernt lag
       von den NKWD-Erschießungsplätzen von 1937 und den deutschen Lagern für die
       im Kiewer Kessel gefangen genommenen Rotarmisten. Ich war zum ersten Mal
       in Babi Jar: In der Schlucht am Kiewer Stadtrand waren in drei Tagen im
       September 1941 über 30.000 Juden getötet worden. Ich war in Charkiw, weil
       ich die Architektur der sowjetischen Avantgarde bewunderte, und entdeckte
       erst später, dass dies auch eine Metropole im Land des Holodomor4 und
       [3][der deutschen Besatzung] war. So war es überall, in diesem von Unglück,
       Terror, Massenmord verheerten Land. Und so ist es heute, wohin auch immer
       ein Deutscher im östlichen Europa unterwegs ist.
       
       Es war eine der Langzeitfolgen des Kalten Kriegs und der Teilung Europas,
       dass uns die Welt jenseits des Eisernen Vorhangs fremder wurde als die
       Rückseite des Monds. Für die in der DDR Aufgewachsenen sieht es wohl anders
       aus. Sie waren durch Ausbildung, Beruf, Reisen näher an den Schauplätzen,
       aber mussten aus lauter Nähe zur Siegermacht auch vieles verdrängen oder
       übersehen.
       
       Die Wahrnehmung dessen, was im Krieg geschehen war, blieb asymmetrisch –
       und ist es bis heute. Man weiß vom Judenmord, aber nur wenig vom
       Massensterben der sowjetischen Kriegsgefangenen. Man spricht vom
       Russlandfeldzug, obwohl sich Krieg und Besatzung vor allem in der Ukraine
       und Belarus abgespielt hatten. Man wird nicht müde, auf die ukrainischen
       Hilfswilligen zu verweisen, während die russische Wlassow-Armee kaum
       erwähnt wird. Es reicht nicht ein Leben, jedenfalls nicht meines, nicht das
       einer Generation, um wirklich zu erfassen, geschweige denn
       dahinterzukommen, was da passiert ist.
       
       ## Kein gemeinsames Gedenken
       
       Im achtzigsten Jahr der Wiederkehr des Angriffs auf die Sowjetunion
       bedrückt einen nicht nur die Ungeheuerlichkeit der deutschen Verbrechen,
       sondern auch, dass es ein diesem Anlass angemessenes gemeinsames Gedenken
       nicht gibt, derzeit wohl auch nicht geben kann. Putins Russland führt Krieg
       gegen die Ukraine, [4][Lukaschenko hetzt seine Schläger auf das Volk,] in
       Russland gibt es fast täglich neue Maßnahmen, um jede oppositionelle Regung
       im Keim zu ersticken.
       
       Aber es ist nicht aller Tage Abend. Als Wassili Grossman in den sechziger
       Jahren die Veröffentlichung seines Romans „Leben und Schicksal“ forderte,
       beschied ihm die Ideologie-Abteilung der KP, dieser würde auch in 200
       Jahren nicht erscheinen können. Grossmans Epos zeigt das ganze Drama
       zwischen Stalingrad und Berlin, zwischen dem Getto in Berditschew und der
       „Hölle von Treblinka“, zwischen Buchenwald und Workuta. Die damals
       Mächtigen haben sich verrechnet, Wassili Grossman war stärker.
       
       1 Die Leningrader Sinfonie widmete Dmitri Schostakowitsch der belagerten
       Stadt, sie wurde dort am 9. August 1942 uraufgeführt. 
       
       2 Kulaken waren selbstständige Bauern, sie wurden mit ihren Familien
       zwischen 1929 und 1932 in Lager deportiert oder erschossen. 
       
       3 NKWD: Geheimpolizei der Sowjetunion von 1934 bis 1946. 
       
       4 Holodomor (ukr.) bezeichnet die Hungersnot in der Ukraine, bei der in den
       1930er Jahren bis zu 7 Millionen Menschen starben.
       
       20 Jun 2021
       
       ## LINKS
       
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   DIR [4] /Schreckensszenarien-in-Belarus/!5776115
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Karl Schlögel
       
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