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       # taz.de -- Klagenfurter Literaturtage: Wettlesen auf Bildkacheln
       
       > Viel Gegenwart steckte nicht in den Texten, dafür umso mehr
       > Familiengeschichten. Der Ingeborg-Bachmann-Preis 2021 geht an Nava
       > Ebrahimi.
       
   IMG Bild: Die Ingeborg-Bachmann-Preisträgerin 2021 heißt Nava Ebrahimi
       
       Was wollen die Texte? Häufig zu viel! Das ist der Eindruck, den man in den
       Jurydiskussionen des diesjährigen Bachmannpreises gewinnen konnte. Nicht
       immer deckt sich der Anspruch der Texte, politische Zustände zu
       analysieren, mit der Fähigkeit der Autoren, das souverän und zugleich
       subtil durchzuarbeiten. Da wird den Autoren schon mal vorgeworfen, ihre
       Texte hätten checklistenartig alle Themen abgeliefert, die beim
       Bachmannwettlesen eben ankommen – Diaspora, Kleinstadtmief und Hunde –,
       seien kalkuliert, aber literarisch wenig pointiert.
       
       Daher verwundert es kaum, dass in diesem Jahr [1][mit dem Text von Nava
       Ebrahimi] ein eher tastender Text von der Jury ausgezeichnet wurde. Einer,
       der gar nicht erst vorgibt, alle Antworten auf die Fragen der Zeit zu
       liefern. Der aber sehr wohl davon zeugt, dass sich „im Raum der Literatur
       Ausdrucksmöglichkeiten öffnen“, wie es auch [2][Juror Klaus Kastberger]
       formuliert, der Ebrahimi nach Klagenfurt einlud.
       
       Ebrahimis Text handelt vom Besuch einer Protagonistin bei ihrem Cousin in
       den USA. Es ist ein Text, so betont es auch Insa Wilke, der von der
       Unmöglichkeit der Verständigung erzählt: „Mein Cousin und ich, wir haben
       noch nie darüber geredet. Wir haben es noch nicht einmal versucht.“ Das
       Gespräch zwischen Familienmitgliedern wird als Kammerspiel inszeniert. Der
       Cousin durchtanzt den Dialog, so als könne er sich jeder sprachlichen
       Festlegung gleichsam mit einem Tanzschritt entziehen.
       
       Auf die eine oder andere Art dominieren also Familiengeschichten, die von
       der Suche nach Verständigung zwischen den Generationen erzählen, den
       Wettbewerb. Nirgends eine unbarmherzige Abrechnung, keine Neurosen, eher
       steht das Zuviel an Geschichte und Schweigen, das die kulturellen
       Verstrickungen der Familie bewirken, im Vordergrund.
       
       ## Die weiteren Preisträger
       
       Wenig überraschend, dass die jüngste Autorin des diesjährigen Wettlesens,
       Dana Vowinckel, in gleich zwei Stichwahlen antritt – neben dem Hauptpreis
       auch in der Stichwahl für den Deutschlandfunkpreis, in der sie gegen
       [3][Necati Öziri] gewinnt. Vowinckel überzeugt mit einem in dualer
       Perspektive erzählten Text über Vater und Tochter im liberalen Judentum
       zwischen Deutschland, den USA und Israel.
       
       Tatsächlich hatte man beide Autoren nach ihrer Lesung auf der
       Favoritenliste, auch deshalb, weil sich bei Öziri ein mit großem
       literarischem Vorbild spielender, buchstäblich theatralischer Text mit
       einer an rhythmischen Sprechgesang erinnernden Vortragsweise mischte, wofür
       er sehr verdient mit dem Kelag-Preis ausgezeichnet wurde. Öziri performt
       den Text wie ein Rapper, der erhobene Zeigefinger tippt wie ein Metronom,
       rhythmisiert die Lesung.
       
       Die pandemische Gesamtlage machte auch in diesem Jahr die Abwesenheit der
       Autoren bei der eigentlichen Lesung notwendig. Gelesen wurde in
       vorproduzierten Videos. Die Räume, in denen die Autoren lesen, sind
       bühnenhaft ausstaffiert. In der Hälfte der Videos hängt eine
       Bachmannpreis-Umhängetasche im Bild, man fragt sich doch, wer auf die Idee
       mit dem, ähm, pfiffigen Accessoire kam.
       
       Die Autoren, die in Privaträumen lesen, zeigen eine sorgsam mit den Zeichen
       bildungsbürgerlicher Kleinweltläufigkeit ausstaffierte Welt: Bücherwände,
       Originalgrafiken. Betont lässig, hier und da hängt ein Bild schief.
       
       ## Lesungen im Splitscreen-Modus
       
       Die gefilmten Lesungen nutzen einen Splitscreen-Modus: Wir sehen die
       Autoren gleichzeitig im Porträt, Brustbild und mit Fokus auf die Hände, die
       Texte halten – interessanterweise stets gedruckte Texte, niemand wischt auf
       einem Tablet herum. Bei der Vorführung der Lesung werden wiederum die
       Autoren zugeschaltet, die nun vor heimischer Kulisse, weniger inszeniert,
       sich selbst beim Lesen lauschen. Was ein wenig schizophren anmutet, ist
       doch auch ein schönes Bild für Autorschaft im 21. Jahrhundert, die sich
       medienbasiert bei der eigenen Inszenierung beobachtet.
       
       Und dann springen die Juroren ins Bild, die tatsächlich anwesend sind.
       Unfreiwillig komisch wirkt die Zusammenführung der Bildkacheln der Juroren
       in einem Bild wie bei „The Brady Bunch“, es fehlt nur, dass der eine aus
       seiner Kachel auf die andere herabschaut. Fein austariert sind die Rollen
       der Juroren.
       
       In der diesjährigen Bachmann-Jury übernimmt Philipp Tingler die Rolle des
       Exekutanten, der auch schon mal symbolisch Text und Autor enthauptet, wenn
       er einen völligen Mangel an Transzendenz bescheinigt. Tingler, der sich mit
       Klaus Kastberger und Insa Wilke gerne einmal Frotzeleien liefert, gibt den
       Kritiker im unterhaltsamen, wenn auch bösen GIF-Format. „Oh mein Gott!“
       
       Überhaupt, die Rollen, die hier gespielt werden! [4][Mara Delius] zeigt
       sich als mit allen Mitteln der Litergeschichte gewaschene Kritikerin, die
       die eigene Kritik stilistisch pointiert vorträgt, während Insa Wilke die
       Ärmel hochkrempelt – buchstäblich – und zur Verteidigung von Autorinnen in
       den Ring springt. „Langweilig! Proseminar!“, ruft Tingler in den Raum,
       während Insa Wilke sich bemüht, doch noch einmal ganz grundlegend nach den
       Möglichkeiten der Literatur zu fragen.
       
       Interessant auch die Rolle Kastbergers, der charmant grantelnd kommentiert,
       während Brigitte Schwens-Harrant ohne viel Prätention und Selbstdarstellung
       eine sozusagen nahbare Literaturkritik verkörpert. Eine Joker-Rolle hat Vea
       Kaiser, die mal begeistert von Texten schwärmt, nur um beim nächsten ganz
       grundlegend, unerwartet harsch abzuurteilen.
       
       Zum Schreien komisch wird es, wenn Kastberger bemerkt, Julia Webers Text
       sei der beste, den Juror Michael Wiederstein je nominiert habe – was
       freilich nicht viel heiße, aber immerhin. Wiederstein verzichtet auf allzu
       viel Selbstdarstellung oder drakonische Urteile – vielleicht erscheinen sie
       auch nur sanfter, weil mit sonorer Stimme vorgetragen.
       
       ## Menschlich-gemeiner Austausch
       
       Man genießt es, der Literaturkritik live zuzuschauen, auch weil es sonst so
       wenig Raum gibt für den menschlich-gemeinen Austausch zwischen den
       Kritikern, dem in Klagenfurt offensichtlich der Vorrang vor
       Live-Autorenlesungen eingeräumt wird. Das Grandiose an Klagenfurt ist doch,
       dass hier Kritiker, so sehr sie auch auf ästhetische Kategorien verweisen,
       immer auch Geschmacksurteile fällen und damit zeigen, dass die Frage nach
       der guten Literatur so eindeutig nicht zu beantworten ist.
       
       Nicht zu Unrecht fällt wiederholt die Bemerkung, derselbe Text hätte so
       oder so ähnlich auch vor 30 Jahren gelesen werden können. Viel Gegenwart
       steckte nicht in dieser Literatur. Es ist ja bedeutsam, dass Autoren, die
       ihre bildtechnische Inszenierung offensichtlich am
       Social-Media-Bildkachel-Zeitalter geschult haben, eben dieses weitestgehend
       in ihren Texten ausblenden. Die textuelle Betulichkeit, die Langsamkeit und
       Getragenheit des Diktums, die irgendwie aufs Schreibmaschinenzeitalter zu
       verweisen scheint, nicht auf die pointierte Kürze und elliptische
       Engführung des Twitter-Zeitalters – wie soll man sie deuten? Nun kann
       Literatur den Zeitgeist unterwandern, vielleicht sollte sie dabei aber das
       mediale Umfeld der Textproduktion nicht unterschlagen?
       
       In Julia Webers Wettbewerbstext sagt Protagonistin Ruth zur Erzählerin: „…
       manchmal käme ihr das ganze Leben vor wie das Abtrocknen feuchter Hände an
       einem feuchten Handtuch.“ Vielleicht hat Weber damit ein treffendes Bild
       für Gegenwartsliteratur gefunden.
       
       20 Jun 2021
       
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