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       # taz.de -- Pressefreiheit in Indien: Die Meinungshoheit der anderen
       
       > Corona hat die Medienlandschaft Indiens verändert: Social Media wird
       > reguliert, während Arbeitsmöglichkeiten für Journalist:innen
       > schrumpfen.
       
   IMG Bild: Die Minister Prasad (l.) und Javadekar (r.) verkündeten am 16. Juni neue Social-Media-Regelungen
       
       Mumbai taz | Am Abend des 24. Mai stehen Polizist:innen der
       Eliteeinheit vor dem indischen Büro von Twitter. Es soll nicht die letzte
       Auseinandersetzung sein. Der „Warnhinweis“ der Polizei folgte, nachdem
       Kurznachrichten prominenter Nutzer:innen aus der Riege der
       Regierungspartei BJP als „[1][manipuliert]“ gekennzeichnet wurden.
       
       Es handelte sich um Hinweise, dass die Opposition versuche, dem Ruf Indiens
       und der Regierung zu schaden. Zwar waren die Geschäftsräume aufgrund des
       Lockdowns geschlossen, doch es transportierte die Botschaft, dass Indiens
       Mächtige zunehmend verärgert sind über das Unternehmen.
       
       Nun geht Ravi Shankar Prasad, Minister für Informationstechnologie, auf
       Twitter gegen Twitter vor. Absichtlich halte sich das Unternehmen nicht an
       die neuen IT-Regeln, die seit 26. Mai gelten, so der Jurist und
       Spitzenpolitiker der hindunationalistischen Volkspartei BJP.
       
       Zuvor hatte Twitter eine rechtliche Mitteilung erhalten, da es Konten
       wiederhergestellt hatte, die Proteste von indischen Bauern unterstützten.
       Weitere Profile, wie das des [2][Karikaturisten Manjul], sollen gegen das
       Gesetz verstoßen haben, hieß es in einer veröffentlichten E-Mail von
       Twitter an den Zeichner.
       
       Beschwerden und Hilferufe häuften sich in den sozialen Netzwerken während
       der Pandemie: Auf Twitter und anderen Plattformen suchten Nutzer nach
       medizinischem Sauerstoff und Medikamenten oder ließen ihrer Wut auf die
       Regierung freien Lauf.
       
       Daraufhin übten manche Politiker:innen Druck aus, wie der
       Regierungschef des Staates Uttar Pradesh, der verneinte, dass es einen
       Mangel gäbe. Mit ihnen wuchs auch die Kritik an der Regierung, der
       Plattformen unter Zugzwang stellt, einzugreifen. Im Fall des Karikaturisten
       hat Twitter keine Maßnahmen ergriffen. Nun treten neue Regelungen in Kraft.
       Neuerdings können Mitarbeiter:innen von Social-Media-Plattformen
       haftbar gemacht werden für Inhalte, die Nutzer:innen teilen.
       
       ## Regeln außerhalb der Menschenrechtsnormen
       
       Von dieser neuen Regelung wird bald darauf Gebrauch gemacht: Nachdem eine
       Tat gefilmt wurde, in der Hindus einen Muslim angegriffen haben sollen,
       zeigte die Polizei drei indisch-muslimische Journalisten, ein kritisches
       Medienunternehmen und Twitter wegen der Verbreitung des Videos an.
       
       Es wurde zunächst als religiös motiviert eingeschätzt. Doch das kritisiert
       Minister Prasad. Der Clip, der von zahlreichen Medien und dessen
       Vertreter:innen geteilt wurde, stifte Gewalt zwischen den
       Glaubensgemeinschaften an, so Prasad. Zwar ist das Recht auf freie
       Meinungsäußerung in der indischen Verfassung garantiert, aber es legt auch
       bestimmte inhaltliche Beschränkungen fest, um religiös-gesellschaftlichen
       Spannungen entgegenzuwirken.
       
       Doch die neuen IT-Regeln gehen weiter: Auf Anfrage sollen
       Absender:innen von Nachrichten auf sonst verschlüsselten Messengern wie
       Whatsapp übermittelt werden. Die Befürchtung ist, dass dadurch die
       Privatsphäre von Nutzer:innen ausgehöhlt wird. [3][Somit klagte Whatsapp
       vor Gericht]. Expert:innen der Vereinten Nationen warnen: Indiens neue
       IT-Regeln [4][würden nicht den globalen Menschenrechtsnormen entsprechen].
       
       Die konkurrierende App Signal begrüßte in Indien bereits Millionen von
       neuen Nutzer:innen, da es seit Längerem Bedenken wegen des Datenschutzes
       bei Messengerdiensten wie Whatsapp gibt. Diese sind nach einem Abhörskandal
       vor zwei Jahren und der Tatsache, dass in Indien lockerere Richtlinien als
       in Europa gelten, nicht unbegründet.
       
       Das liege aber an Indiens schwachen Datenschutzgesetzen, sagt Mishi
       Choudhary, Anwältin und Geschäftsführerin des Software Freedom Law Centre
       (SFLC). „Sowohl die Regierung als auch die Tech-Unternehmen behaupten, sie
       würden die Nutzer:innen schützen, aber in Wirklichkeit sind sie
       diejenigen, die ohne viel Macht dastehen“, ergänzt Choudhary.
       
       Vor neun Jahren begann sie damit, die Zahl der Internetabschaltungen im
       Land zu dokumentieren. 2018 wurden die meisten Unterbrechungen verzeichnet:
       134. In diesem Jahr waren es bisher 21. „Die Internetfreiheit in Indien ist
       im dritten Jahr in Folge dramatisch zurückgegangen“, heißt es [5][im
       letzten Bericht über Freiheit im Netz von Freedom House].
       
       ## Der Premier als Twitter-Meister
       
       Dass sich der Fokus auf soziale Medien verlagert, verwundert nicht. Für
       viele internationale Firmen wie Facebook ist Indien mit seiner Bevölkerung
       von 1,4 Milliarden der größte Markt, zu dem sie Zugang haben. Dazu sind
       soziale Medien für die Regierung unverzichtbar, um ihre Wähler:innen zu
       erreichen. Der indische Premier Narendra Modi mit 69 Millionen
       Twitter-Follower:innen und seine Partei BJP gelten als Meister ihres
       Metiers.
       
       Doch sie mussten in der Vergangenheit herbe Kritik einstecken. Als die
       zweite Coronawelle im April zu verheerenden Zuständen im Land führte,
       trendete auf Twitter der Hashtag #ResignModi. Zwei Monate vorher wurde die
       Umweltaktivistin Disha Ravi in Untersuchungshaft genommen, da sie über
       Twitter ein Dokument mit Anleitungen geteilt hatte, um protestierende
       Bauern zu unterstützen, womit die Regierung gezielt unter Druck gesetzt
       werden sollte. Das Dokument ging viral: Sogar Greta Thunberg teilte das
       sogenannte „Toolkit“, das vonseiten der Regierung als [6][antiindische
       Propaganda aufgefasst wurde].
       
       Monate davor steuerten viele Zeitungen in Indien auf eine Krise zu. In
       Städten wie Mumbai stand zwischenzeitlich die Druckerpresse still. Es
       kursierten Gerüchte, dass sich über Zeitungen [7][Corona] verbreiten
       könnte. Dazu kam eine weitere Herausforderung: der eingebrochene
       Anzeigenmarkt, über den sich viele finanzieren. Eine Folge waren
       massenhafte Entlassungen im Printmarkt.
       
       „Die Medienhäuser sind weitgehend von staatlicher Werbung abhängig, um zu
       überleben“, sagt Ramesh Menon, der seit 40 Jahren als Journalist arbeitet
       und unterrichtet. Was er als Grund nennt, warum so manches etablierte
       Medium in den vergangenen sieben Jahren begonnen habe, Kritik an der
       Regierung zu unterdrücken. Indien war ein Land, in dem es der
       Zeitungsindustrie gut ging.
       
       Doch mit der Pandemie sind die Arbeitsmöglichkeiten für
       Journalist:innen zurückgegangen, erklärt Menon. Viele Stellen und
       Gehälter wurden zusammengestrichen, die teilweise bis heute nicht
       aufgestockt wurden, obwohl sich die finanzielle Lage erholt habe. Der Druck
       wächst: Vermehrt wurden Medienschaffende unter dem Gesetz zur Verhinderung
       ungesetzlicher Aktivitäten (Unlawful Activities Prevention Act – UAPA)
       angeklagt. Die Toleranz für abweichende Meinungen in Indien wird geringer,
       stellen Beobachter:innen fest.
       
       23 Jun 2021
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://timesofindia.indiatimes.com/india/whats-manipulated-media-and-how-does-twitter-tag-them/articleshow/82927484.cms
   DIR [2] /Indischer-Zeichner-Manjul-unter-Druck/!5774939
   DIR [3] https://netzpolitik.org/2021/eingriff-in-soziale-netzwerke-whatsapp-klagt-gegen-indische-regierung/
   DIR [4] https://www.livemint.com/news/india/indias-it-rules-do-not-conform-with-international-human-rights-un-special-rapporteurs-11624033126565.html
   DIR [5] https://freedomhouse.org/country/india/freedom-net/2020
   DIR [6] https://twitter.com/MEAIndia/status/1356853835361259520
   DIR [7] /Pandemie-in-Indien/!5767585
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Natalie Mayroth
       
       ## TAGS
       
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