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       # taz.de -- Unterwegs im Berliner Grunewald: Der Wald der Zukunft
       
       > Damit es den Bäumen nicht zu heiß wird, kommt es auf Artenvielfalt und
       > die richtige Mischung an. Die aber muss im Wald erst gefunden werden.
       
   IMG Bild: Der Berliner Grunewald
       
       Diese überraschende Nähe ist sein Reiz, aber vielleicht auch eine Gefahr
       für ihn selbst. Gerade noch in der S-Bahn an Baumärkten und Kränen
       vorbeigefahren, steigen wir aus, unterqueren eine Autobahn und stehen auch
       schon vor einem von Berlins größten Erholungszielen: dem Grunewald.
       
       Der Parkplatz ist an diesem angenehm warmen Juninachmittag nur mittelgut
       besucht, allein sind wir trotzdem nicht. Spaziergänger, Jogger, Kinder,
       Hunde, sie alle möchten auch an diesem Tag unter der Woche ein wenig
       Freizeit im Wald verbringen.
       
       Nicole Wellbrock entspannt gleichfalls gerne im Wald. Oft genug aber kommt
       sie auch hierher, um zu arbeiten. Ihr Job ist es, zu erforschen, wie es dem
       Wald geht. Ihr geht es um die Bäume und den Boden. Jedes Jahr erhebt die
       Waldforscherin vom Thünen-Institut in Eberswalde mit ihren Kolleg:innen
       den Waldzustandsbericht für ganz Deutschland.
       
       Heute schauen wir uns an, wie es um den Grunewald steht. Er grenzt direkt
       an eine Millionenstadt und wird von einer Autobahn durchkreuzt. Etwa 100
       Millionen Mal wird der Grunewald im Jahr besucht. Seit Beginn der Pandemie
       vermutlich sogar noch häufiger, schätzt das Berliner Forstamt. Die letzten
       Jahre war es heiß und trocken wie nie. Zeit für einen Spaziergang durch
       einen von Berlins größten Forsten.
       
       Wir schlendern los. Nicole Wellbrock freut sich darüber, dass viele
       Menschen in den Wald kommen. „Der Grunewald ist ja ein Erholungswald“, sagt
       sie. Mit vielen attraktiven Zielen wie Seen, Gaststätten und
       Umweltbildungszentren ist er darauf ausgelegt, von vielen Berlinern besucht
       zu werden. Kleine Naturschutzgebiete gibt es aber trotzdem hier und da,
       Holz wird nur wenig verkauft. Wellbrock findet es wichtig, dass
       Besucher:innen den Wald genießen und ihn schätzen lernen. „Eine
       Gesellschaft, die pfleglich mit dem Wald umgeht, geht auch pfleglich mit
       sich selbst um“, meint sie.
       
       Regeln zu beachten sei dabei wichtig: auf den Wegen bleiben, keine Dinge
       mitnehmen oder liegen lassen. Und vor allem kein Feuer machen. Wirklich
       nie.
       
       Wir werfen einen ersten Blick auf die Bäume. „Der Grunewald ist ein schöner
       Mischwald mit verschiedenen Laubbäumen und Kiefern“, erklärt Wellbrock. Wir
       sehen gleich zu Beginn Eichen, Ahorne, Kastanien, Robinien und dazwischen
       immer wieder Kiefern.
       
       Laubmischwald, das betont Wellbrock, ist der Wald der Zukunft. Der Weg im
       Wald führt weg von Monokulturen, also Wäldern mit immer der gleichen
       Baumart. Die sind eben, wie man weiß, zu anfällig für Schädlinge, die meist
       auf eine Baumart spezialisiert sind, und erholen sich langsamer. Und es
       geht weg von der Fichte. Die ist ganz klar die Verliererin der letzten drei
       Jahre, die extrem heiß und trocken waren. Alle Fichten müssen nach und nach
       durch andere Baumarten ersetzt werden, die mit den sich verändernden
       Bedingungen besser zurechtkommen, so Wellbrock. In Berlins Wäldern sind die
       meisten Bäume Kiefern, die kamen bislang mit den sandigen Böden am besten
       zurecht. Wärme mögen sie aber auch nicht besonders. Laut
       Waldzustandsbericht 2020 sind nur noch 7 Prozent von Berlins Bäumen
       schadlos intakt und nur 5 Prozent der Kiefern. Knapp 3 Prozent sind sogar
       vollends abgestorben. Zum Vergleich: Deutschlandweit sind immerhin 21
       Prozent aller Bäume noch ohne Schäden.
       
       Wie es einem Baum geht, erkennt man unter anderem an seiner Krone. Wir
       wollen uns die Krone einer Kiefer genauer anschauen und müssen dafür eine
       der Besucherregeln im Grunewald brechen. Wir gehen ein Stück vom Weg ab.
       Wellbrock deutet auf einen Baum: „Der Stamm sieht schon mal gut aus: unten
       dunkler, nach oben hin wird er heller. Dass weiter unten einige Zweige
       trocken und nadellos herabhängen, ist in Ordnung. Dann beginnen die ersten
       Zweige, schön dunkelgrün. An den Spitzen wachsen sie allerdings pinselartig
       – ein Zeichen dafür, dass der letzte Jahrgang zwar gewachsen ist, davor
       aber einige zu Schaden gekommen oder ausgeblieben sind.“ Insgesamt sieht
       die Krone an einigen Stellen lückenhaft, fast fransig aus. Wellbrock zückt
       ein Handbuch zur Einschätzung von Kronenverlichtung und gleicht die Bilder
       mit der Kieferkrone vor uns ab. Sie schätzt, dass diese hier zu 45 Prozent
       geschädigt ist.
       
       „Die Trockenjahre“, wie Wellbrock die Jahre 2018, 2019 und 2020 nennt,
       haben auch die Forscher:innen im Thünen-Intitut überrascht. Immer wieder
       ein trockenes Jahr sei bislang normal gewesen. Aber nicht mehrere
       hintereinander und vor allem nicht in dieser Intensität. Den Bäumen haben
       die letzten Jahre viel zugemutet, eine Waldfläche von der Größe des
       Saarlandes ist dadurch abgestorben.
       
       Aber einige Bäume, so wie diese Kiefer hier im Grunewald, können sich
       erholen. Der kühle, nasse Frühling hat bereits dafür gesorgt, dass es dem
       Wald in diesem Jahr deutlich besser geht. Wellbrock freut sich. Viele Bäume
       sehen schön buschig und grün aus.
       
       Wir gehen weiter. Als Kind, erzählt Wellbrock, habe sie am Rand eines
       großen, alten Buchenwaldes in Holstein gelebt. Am anderen Ende wohnte ihre
       Freundin, und so trafen sich die beiden häufig in der Mitte mit ihren
       Hunden zum Spazierengehen. Nach dem Abitur hat Wellbrock dann entschieden,
       das Schicksal des Waldes zu ihrem Beruf zu machen. Seit 18 Jahren arbeitet
       sie mittlerweile für das Thünen-Institut. Sie hat seitdem viele Wälder
       erforscht, doch die schönsten bleiben für sie jene mit den alten
       holsteinischen Buchen.
       
       Mit ihrem Sohn ist sie regelmäßig im Grunewald unterwegs, weil der aus der
       Mitte Berlins so gut erreichbar ist. Sie hat auch schon Schulklassen in den
       Wald begleitet, um ihn Kindern näherzubringen. Dabei erstaunte sie, dass
       einige Kinder zwar schon im Wald waren, sich aber gehemmt gezeigt hätten,
       den Waldboden auch anzufassen. Bei unserem Spaziergang dagegen sehen wir,
       dass viele Kinder dies im Grunewald sehr wohl tun: Abseits des Weges stehen
       zahlreiche aus Ästen errichtete Tipis. Zumindest aus Sicht der
       Umweltbildung keine Sünde. An vielen Stellen liegen im Unterholz alte Bäume
       und große Äste herum, damit den Spaziergängern das Herumwandern abseits der
       Wege erschwert wird. Lebensraum für Insekten und Vögel sieht die
       Waldforscherin in dem alten Holz, Unordnung sehen darin manche
       Spaziergänger. Nicht wenige rufen deshalb schon mal beim Berliner Forstamt
       an.
       
       Nach einiger Zeit erreichen wir eine große Kuhle mit Sand, der ein
       Überbleibsel der letzten Eiszeit ist. Am Wochenende rollen und rennen
       Kinder den Hang hinunter und spielen auf der kleinen Erhebung an seinem
       Fuß, einer Wanderdüne. Heute ist es ruhig. Hinter der Düne erstreckt sich
       ein Feuchtgebiet. Spaß und Naturschutz, das ist im Grunewald nicht selten
       eng miteinander verzahnt.
       
       Wir steigen eine Holztreppe neben dem Hang hinab, durchqueren eine
       hochgewachsene Wiese mit rötlichen Gräsern und nähern uns den Tümpeln. Viel
       Wasser ist nicht drin, aber Weiden und Schilf deuten an, dass noch Wasser
       im Boden ist, erklärt Wellbrock. Mit dem Aussehen der Bäume ist sie auf den
       ersten Blick zufrieden. „Sie sehen noch üppiger aus als letztes Jahr“, sagt
       sie. Bei einer Kiefer untersucht sie ein paar Zweige, an denen
       spinnennetzartige Fäden hängen. Schädlinge sind das wohl nicht. Dann zeigt
       sie auf den Waldrand in einiger Entfernung und stellt fest: „Die hat es
       nicht geschafft.“ Zwischen vielen gesund aussehenden Kiefern steht eine im
       trockenen Rostbraun erstarrte.
       
       Es sei nicht ungewöhnlich, dass ein Baum abgestorben und alle drum herum
       gesund sind, erklärt Wellbrock. Bäume sind keine Teamplayer, sondern
       Individuen, die um die Ressourcen, also Wasser und Nährstoffe,
       rivalisieren. Wenn diese knapp werden, dann schaffen es manche und andere
       eben nicht.
       
       Eines wird aus ihren Ausführungen deutlich: Sterben, das wird der Wald erst
       mal nicht. Er muss sich an die veränderten Nutzungs- und Klimabedingungen
       anpassen. Und dabei kann ihm geholfen werden. Waldumbau heißt dieser
       Vorgang in Fachkreisen. Baumarten müssen her, die mit der Trockenheit
       umgehen können. Die Buchen in Deutschland haben ebenfalls unter den
       Klimabedingungen zuletzt gelitten, auch wenn nicht so sehr wie manche
       Nadelbaumarten. Für die nahe Zukunft ist das relevant, denn Buchen kommen
       auch in ohnehin trockeneren Regionen wie Polen und Südfrankreich vor.
       
       Das Thünen-Institut erforscht derzeit die Anpassungsfähigkeit der Buchen in
       Deutschland. Sie müssen Trockenheit und Hitze verkraften, aber eben auch
       mal Kälte. Oder sogar Feuer.
       
       Große Waldbrände werden in Zukunft durch die Hitze und Trockenheit noch
       zunehmen, sagt Wellbrock und bleibt beim Stufensteigen stehen, sieht sich
       noch mal um. Durch herabhängende Äste und dicht am Weg stehende Bäume ist
       die Sanddüne schon nicht mehr zu sehen. Waldbrände, das sei aber etwas, auf
       das man sich vorbereiten könne. Mehr Personal und Löschmaterial, das auch
       dann aufrechterhalten werden müsse, wenn mal eine Zeit kommt, die
       kurzzeitig weniger heiß und trocken sei, meint sie. Der Trend gehe ja
       trotzdem weiter in diese Richtung.
       
       Wir gehen zurück zum Parkplatz. Der Hauptweg ist von kleinen Kastanien
       gesäumt. Noch sind die Blätter frisch grün. „Direkt vor meinem Balkon steht
       eine Kastanie, an deren Blättern ich das Fortschreiten des Sommers gut
       sehen kann. Ab Juli fangen sie an, braun zu werden“, sagt Wellbrock. Dann
       beginnen sich die Larven der Miniermotte durch Kastanienblätter zu fressen
       und lassen sie austrocknen.
       
       Jetzt am frühen Abend kommen immer noch Besucher in den Wald. Vielleicht
       funktioniert der Satz mit der Waldpflege ja auch andersherum. Eine
       Gesellschaft, die pfleglich mit sich selbst umgeht – also weiß, dass ihr
       viel Zeit im Grünen guttut –, geht auch pfleglich mit dem Wald um. Das
       hofft Nicole Wellbrock. Denn nur durch rücksichtsvolle Nutzung und Pflege
       kann er uns noch lange bieten, was wir von ihm wollen.
       
       26 Jun 2021
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Anna Bordel
       
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