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       # taz.de -- Legalisierung von Glücksspiel: Machen Sie Ihr Spiel!
       
       > Im Juli tritt der neue Glücksspielstaatsvertrag in Kraft. Doch statt
       > Hilfe für Spielsüchtige ist er ein fauler Kompromiss, sagen
       > Expert:innen.
       
   IMG Bild: Als Glücksspiel noch als vornehm galt: Cary Grant im Film „To Catch a Thief“ von 1955
       
       Wenn Baran Moradi über seine Suchterkrankung spricht, dann zittern immer
       noch ab und zu seine Lippen. 2007 habe es angefangen, erzählt er. Ein
       entfernter Verwandter habe ihn mitgenommen. Beim ersten Mal habe er nur
       zugeschaut, auch beim zweiten Mal noch. Doch dann wurde die Neugier zu
       groß. Moradi hat sich selbst an den Tisch gesetzt und begann, Roulette zu
       spielen.
       
       Am Dienstagvormittag sitzt Moradi in einem Besprechungsraum des Vereins
       [1][Reset – Glücksspielsuchthilfe]. Moradi, kurze, schwarze Haare und
       akkurat getrimmter Bart, heißt eigentlich anders. Seinen richtigen Namen
       will er wegen seiner Suchterkrankung nicht in der Zeitung lesen.
       
       Moradi verliert schnell viel Geld an den Roulettetischen
       Schleswig-Holsteins, wo er zu jener Zeit lebt. Er ist erst 22, verdient
       gut. Sein tägliches Kreditkartenlimit liegt bei 500 Euro. Und Moradi nutzt
       es aus – auch als die Verluste sein Einkommen längst übersteigen. „Dieses
       Auf und Ab, Verlieren oder Gewinnen, das ist wie ein Rausch“, beschreibt
       Moradi das Gefühl, wenn er spielt.
       
       Er verliert mehr als Geld damals. Er verliert seinen Job, er verliert seine
       Wohnung. Und auch einen Teil von sich selbst. „Man lebt nur noch dafür“,
       sagt er. „Sobald man aufsteht, sind die Gedanken bei der Sucht.“ Er hört
       erst auf, als er ganz unten angekommen ist. Als er nicht mehr an Geld
       kommt, hoch verschuldet ist. Nach einer Therapie in einer Spezialklinik
       beginnt er, als Taxifahrer zu jobben. Er findet eine neue Wohnung und neuen
       Mut. Dann kehrt die Sucht zurück. Moradi fängt wieder an zu spielen,
       diesmal an Automaten.
       
       ## Sperren und Limits
       
       Am kommenden Donnerstag tritt in Deutschland ein neuer
       Glücksspielstaatsvertrag in Kraft, ein Abkommen zwischen allen
       Bundesländern, das die gesetzlichen Regelungen zum Glücksspiel
       vereinheitlichen soll. Der Glücksspielstaatsvertrag soll Fälle wie den von
       Moradi möglichst unterbinden. Ziel sei es, „das Entstehen von
       Glücksspielsucht und Wettsucht zu verhindern und die Voraussetzungen für
       eine wirksame Suchtbekämpfung zu schaffen“. So steht es im ersten Satz des
       Vertrags.
       
       Dafür haben sich die Länder auf unterschiedliche Instrumente geeinigt. So
       sollen sich etwa süchtige Spieler von nun an selbst sperren lassen können.
       Wenn sie dann in ein Kasino gehen oder sich online neu anmelden, wird ihr
       Name in einer Datenbank gefunden und ihnen das Spielen verweigert. Bei
       Fremdsperren sind es die Anbieter, die die süchtigen Spieler eintragen,
       auch gegen deren Willen. Bei einer Selbstsperre ist der Spieler mindestens
       drei Monate vom Glücksspiel ausgeschlossen, bei einer Fremdsperre
       mindestens zwölf Monate.
       
       Für Online-Glücksspiele soll es zudem ein monatliches Limit von 1.000 Euro
       geben. Aktive Sportler:innen und Sportfunktionär:innen sollen nicht
       mehr für Sportwetten werben dürfen. In Halle, Sachsen-Anhalt, wird außerdem
       eine gemeinsame Glücksspielbehörde der Länder eingerichtet werden, die
       Konzessionen entziehen kann und die Sperr- und Limitdatei führen soll. Sie
       soll ab 2023 voll arbeitsfähig sein.
       
       Das ist die eine Seite des Vertrags. Die andere umfasst eine weitreichende
       Legalisierung des Glücksspielmarkts. Denn bisher waren Online-Glücksspiele,
       mit Ausnahme von Schleswig-Holstein, in Deutschland illegal. Dass sie
       trotzdem überall angeboten wurden, lag daran, dass sich viele Anbieter auf
       das EU-Recht beriefen, nach dem sie erlaubt sind. Vor allem aber lag es am
       Unwillen der hiesigen Behörden, gegen die Anbieter vorzugehen.
       
       Selbst die omnipräsenten Online-Sportwetten waren bis Herbst 2020, als
       für die Übergangsphase bis zur Ratifizierung des neuen Staatsvertrags
       entsprechende Konzessionen vergeben wurden, illegal. Den Vertrag
       ausgehandelt haben die Staatskanzleien aus Berlin und Nordrhein-Westfalen.
       [2][Recherchen von NDR, WDR und Süddeutscher Zeitung] belegten in den
       vergangenen Jahren, wie eng Online-Glücksspielanbieter, Banken,
       Finanzdienstleister wie die insolvente Wirecard und Politiker miteinander
       verbandelt waren und für eine Liberalisierung geworben hatten. Letztendlich
       mit Erfolg.
       
       „Die Hardliner haben sich durchgesetzt“, kritisiert etwa Ilona
       Füchtenschnieder den neuen Staatsvertrag. Sie leitet den [3][Fachverband
       Glücksspielsucht], ein Zusammenschluss von Beratungsstellen,
       Wissenschaftler:innen, Ärzt:innen, Psychotherapeut:innen und
       Jurist:innen.
       
       Füchtenschnieder engagiert sich seit über 30 Jahren in der Bekämpfung von
       Glücksspielsucht. Bei der Erarbeitung des Glücksspielstaatsvertrags, der ja
       die wirksame Suchtbekämpfung als oberstes Ziel nennt, wurden sie und ihr
       Verband erst im Anhörungsverfahren der Landesparlamente einbezogen. Ihre
       Kritik verhallte größtenteils.
       
       Dass Konzernen, die eigentlich für ihr jahrelanges illegales Verhalten
       sanktioniert werden müssten, nun der rote Teppich der Legalität ausgerollt
       wird, ist für Füchtenschnieder unbegreiflich. Selbst jemand, der noch am
       30. Juni illegalerweise Online-Glücksspiele anbiete, könne sich ab dem 1.
       Juli um eine Konzession bemühen, sagt sie. Ihre Forderung, gerade jene
       Anbieter für einen gewissen Zeitraum von der Konzessionsvergabe
       auszuschließen, schaffte es nicht in den Vertrag.
       
       Füchtenschnieder wirbt nicht für ein Komplettverbot. Aber sie wirft den
       Vertretern der Bundesländer vor, das Wesen von Suchterkrankungen nicht
       erkannt zu haben. Eine Sperre von zwölf Monaten sei ein Witz. „Wer
       chronisch spielsüchtig ist, braucht etwa fünf Jahren, um wieder Tritt zu
       fassen im Leben“, sagt sie. „Die Schwere der Erkrankung ist der Politik
       offenbar nicht bewusst.“
       
       Auch Anbieter tun sich offenbar schwer, die Erkrankung ernst zu nehmen. In
       Hessen, wo es ein entsprechendes System aus Selbst- und Fremdspielersperren
       bereits gibt, wurden nur 1 Prozent der Sperren nicht vom Spieler selbst
       ausgelöst. Verwunderlich ist das nicht, denn ein effektiver Spielerschutz
       läuft den Geschäftsinteressen der Anbieter zuwider. Durchgeführt wurde die
       Erhebung von Tobias Hayer, der seit über 20 Jahren zu Glücksspielsucht
       forscht, aktuell an der Universität Bremen. „Die Anbieter haben
       Interessenkonflikte“, sagt Hayer. „Der beste Kunde ist die Person, die
       viel, die exzessiv, die süchtig spielt.“
       
       Im Jahr 2019 lag der Umsatz von legalem Glücksspiel in Deutschland laut dem
       [4][„Jahrbuch Sucht“] bei 44,2 Milliarden Euro. Der Umsatz im nicht
       regulierten Markt wird auf 2,2 Milliarden geschätzt. Anbieterverbände wie
       der Deutsche Online Casinoverband oder der Deutsche Sportwettenverband
       loben den neuen Glücksspielstaatsvertrag, Letzterer spricht von „einer
       historischen Zäsur“. Die Länder rückten endlich „von ihrer überholten
       Verbotspolitik ab und regulieren die bestehenden Online-Glücksspielmärkte
       für Sportwetten, virtuelle Automatenspiele und Poker unter strengen
       Qualitätskriterien“.
       
       ## „Glücksspiele haben nichts mit kindlichem Spieltrieb zu tun“
       
       Suchtforscher Hayer hält den Vertrag dagegen für einen „faulen Kompromiss
       unter dem Deckmantel der Legalität“. Er bedeute letztendlich eine
       erhebliche Angebotserweiterung, eine Zunahme an Spielanreizen und damit
       eine Zunahme der Suchtgefahren.
       
       Besonders angetan hat es ihm ein Satz, der gleich an zweiter Stelle im
       Vertrag steht. Durch „ein begrenztes, eine geeignete Alternative zum nicht
       erlaubten Glücksspiel darstellendes Glücksspielangebot“ wolle man den
       „natürlichen Spieltrieb der Bevölkerung in geordnete und überwachte Bahnen“
       lenken.
       
       Hayer hält das für ein Scheinargument. „Glücksspiele haben nichts mit dem
       kindlichen Spieltrieb zu tun. Das ist ein juristischer Trick, das hat keine
       wissenschaftliche Evidenz.“ [5][Eine Umfrage der Bundeszentrale für
       gesundheitliche Aufklärung] (BZgA) von 2019 ergab, dass rund 37 Prozent der
       Bevölkerung in den vergangenen zwölf Monaten mindestens einmal an einem
       Glücksspiel teilgenommen hat. Wo denn der natürliche Glücksspieltrieb der
       übrigen 63 Prozent sei, fragt Hayer.
       
       ## Hunderttausende Süchtige
       
       Erhoben wurde in der Studie der BZgA auch die Anzahl der Süchtigen und
       Suchtgefährdeten. Die Bundesbehörde geht davon aus, dass es etwa 229.000
       problematische und rund 200.000 wahrscheinlich pathologische
       Glücksspielende in Deutschland gibt.
       
       Baran Moradi ist nicht mehr darunter. Nach einem Umzug nach Berlin und
       mehreren Entzugsversuchen hat er bei der Beratungsstelle Reset die Hilfe
       gefunden, die er braucht. Seit 2018 habe er nicht mehr gespielt. „Ich bin
       da wirklich sehr stolz drauf“, sagt er. Kürzlich hat er seinen
       Lkw-Führerschein gemacht. Sein Ziel: ein neuer Job, ein neues Leben.
       
       In der Beratungsstelle, die ihm geholfen hat, engagiert er sich inzwischen
       selbst. Er moderiert, wenn nicht gerade Pandemie ist, wöchentlich die
       Gruppensitzung mit bis zu 15 Betroffenen. Moradi befürchtet, dass es bald
       mehr werden könnten.
       
       27 Jun 2021
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] http://www.gluecksspiel-sucht-hilfe.de/
   DIR [2] https://www.ndr.de/nachrichten/investigation/Nord-Politiker-lobbyierten-fuer-Skandalbank,gluecksspiel340.html
   DIR [3] https://www.gluecksspielsucht.de/
   DIR [4] https://www.dhs.de/unsere-arbeit/dhs-jahrbuch-sucht
   DIR [5] https://www.bzga.de/fileadmin/user_upload/PDF/studien/BZgA-Forschungsbericht_Gluecksspielsurvey_2019.pdf
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Daniel Böldt
       
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