URI: 
       # taz.de -- Neues Klimagesetz verabschiedet: Großes Ziel, kleiner Mut
       
       > Einschneidend sind die Veränderungen, die aus dem Gesetz folgen müssen.
       > Vor ihnen schrecken die meisten Parteien zurück.
       
   IMG Bild: Windräder im Taunus-Gebiet
       
       Berlin taz | Dafür, dass gerade eines der wichtigsten Gesetze der
       Legislaturperiode verabschiedet wird, ist die Atmosphäre im Bundestag recht
       nüchtern. Als am späten Donnerstagnachmittag die finale Debatte zum
       [1][Klimaschutzgesetz] stattfindet, sprechen aus den Fraktionen – mit
       Ausnahme von Grünen-Fraktionschef Anton Hofreiter – vor allem
       Politiker*innen der zweiten Reihe. Von den Regierungsmitgliedern ist
       allein SPD-Umweltministerin Svenja Schulze anwesend.
       
       Deutlich wird die Bedeutung dieses Abends erst, als fast am Ende der
       Debatte Schulzes Amtsvorgängerin Barbara Hendricks das Wort ergreift. Sie
       erinnert in ihrer letzten Rede im Bundestag an den Moment, als sie im
       Dezember 2015 in Paris beim [2][Beschluss des Klimaschutzabkommens] dabei
       war. Damals habe sie gesagt: „Ich neige nicht zu großen Worten, aber heute
       haben wir Geschichte geschrieben.“ Doch damals habe es noch keine
       gesellschaftliche Mehrheit gegeben, um in Deutschland die notwendigen
       Konsequenzen aus dem Beschluss zu ziehen, den Temperaturanstieg auf
       deutlich unter 2 Grad und möglichst 1,5 Grad zu begrenzen. Das habe sich
       erst durch die Proteste von Fridays for Future und mehrere Hitzesommer
       geändert. Diese neue gesellschaftliche Stimmung „können wir nutzen und
       werden wir nutzen“, sagte Hendricks. „Wir haben Geschichte geschrieben, und
       daraus machen wir Zukunft.“
       
       Tatsächlich begibt sich Deutschland mit dem Klimaschutzgesetz, das
       anschließend mit den Stimmen der Großen Koalition verabschiedet wurde,
       zumindest weiter in die Richtung, die für das Einhalten des Paris-Abkommens
       notwendig ist: Statt wie bisher im Jahr 2050 soll Deutschland nun schon
       2045 komplett klimaneutral sein – das erspart der Atmosphäre etwa 1
       Milliarde Tonnen CO2; bis 2030 soll der CO2-Ausstoß im Vergleich zu 1990
       statt wie bisher vorgesehen um 55 Prozent nun um 65 Prozent sinken. Und was
       zuvor schon für die Zeit bis 2030 eingeführt worden war, gilt nun auch für
       die Jahre danach: verbindliche Ziele für die einzelnen Sektoren.
       
       Zuvor gab es in der deutschen Klimapolitik nur Ziele für die gesamte
       Volkswirtschaft, etwa [3][eine Reduktion des CO2-Ausstoßes um 40 Prozent
       bis 2020]. Nur etwa die Hälfte davon war vom EU-Emissionshandel mit einem
       konkreten Deckel pro Jahr versehen. Die andere Hälfte war unspezifisch den
       Sektoren Gebäude, Verkehr, Landwirtschaft und Abfall zugeteilt. Das
       Ergebnis: Klimaschutz wurde von den anderen Ressorts als Aufgabe des
       Umweltministeriums betrachtet und missachtet, besonders im Verkehr, wo die
       Emissionen nicht sanken, sondern stagnierten. Die entscheidenden
       Ministerien kümmerten sich nicht um CO2-Reduzierung, das zuständige
       Umweltministerium war machtlos.
       
       Das ist nun anders. Jedes Ressort hat klare Zielvorgaben. Bis 2030 sind sie
       genau nach Sektoren verteilt; von 2030 bis 2040 gilt eine allgemeine
       Obergrenze, deren genaue Verteilung 2024 per Verordnung festgelegt wird.
       Und 2032 wird die Regierung entscheiden, wie die letzten 12 Prozentpunkte
       von 2040 bis zur Netto-Null im Jahr 2045 erreicht werden sollen. Außer
       Großbritannien hat bisher kein anderes Industrieland ein solches Gesetz,
       mit dem der Bundestag – auf Druck des Bundesverfassungsgerichts – alle
       Regierungen und Verwaltungen für die nächsten 24 Jahre auf überprüfbare
       Zielmarken festnagelt. „Künftig müssen alle Ministerien mehr denn je
       Klimaschutzministerien sein“, hatte die amtierende SPD-Umweltministerin
       Svenja Schulze verkündet.
       
       Neue Verantwortlichkeiten gibt es nun also, schärfere Ziele auch. Aber ein
       entscheidender Teil fehlt. „Einen soliden Plan, wie Sie diese Ziele
       erreichen, haben Sie leider nie vorgelegt“, kritisierte
       Grünen-Fraktionschef Hofreiter am Donnerstag. Dabei wäre das dringend
       nötig: Bis zur angestrebten Klimaneutralität bleiben nur noch 24 Jahre.
       Die Veränderungen, die dafür notwendig sind, sind gewaltig; die bisherigen
       Schritte wirken dagegen winzig, wie ein Blick auf die einzelnen Bereiche
       zeigt.
       
       ## Energie
       
       Absolut zentral für Fortschritte beim Klimaschutz ist ein schneller Ausbau
       der erneuerbaren Energien, weil nur so fossile Brennstoffe möglichst
       schnell ersetzt werden können. Die Thinktanks Stiftung Klimaneutralität
       und Agora Energiewende gehen davon aus, dass der jährliche Zubau von
       Windanlagen in den nächsten Jahren auf 5 Gigawatt mehr als verdreifacht
       werden muss; bei der Fotovoltaik muss der jährliche Ausbau auf 12 Gigawatt
       pro Jahr etwa zweieinhalbmal so groß ausfallen wie im letzten Jahr.
       Beschlossen hat die Regierung aber deutlich weniger – und auch das nur für
       das Jahr 2022. Auf längerfristige Ziele wollte sich die Union entgegen
       früherer Versprechen am Ende doch nicht einlassen.
       
       Der Kohleausstieg muss nach Ansicht von Expert*innen schon im Jahr 2030
       abgeschlossen sein, wenn das Emissionsziel im Energiesektor erreicht werden
       soll. Wenn die Preise im Europäischen Emissionshandel weiter steigen wie
       bisher, könnte das sogar klappen. Doch die Regierung hält trotzdem an ihrem
       offiziellen Plan fest, wonach das letzte Kohlekraftwerk erst spätestens
       2038 vom Netz gehen soll.
       
       ## Gebäude
       
       Der CO2-Preis für Verkehr und Gebäude ist beschlossen, liegt aber mit
       derzeit 25 Euro pro Tonne und dem bis 2026 geplanten Anstieg auf 55 bis 65
       Euro zu niedrig, um die mit dem neuen Klimaschutzgesetz verschärften Ziele
       zu erreichen. Um einen tatsächlichen Umstieg auf klimafreundliche Heizungen
       und Fahrzeuge zu erreichen, gilt ein Wert von 100 Euro pro Tonne für
       erforderlich.
       
       Um die neuen Klimaziele zu erreichen, müssten jedes Jahr knapp 2 Prozent
       der Gebäude energetisch saniert werden. Derzeit liegt die Quote bei weniger
       als der Hälfte. Die Regierung gibt zwar für Anreizprogramme viel Geld aus,
       geizt aber mit wirksamen Maßnahmen: Ölheizungen können bis 2026 noch
       installiert werden, für Gasheizungen gibt es kein Enddatum, eine Pflicht
       für Solaranlagen bei Neubauten scheiterte auf den letzten Metern an der
       Union. Gleiches gilt für den zuvor erreichten Kompromiss, dass die Kosten
       für den höheren CO2-Preis beim Heizen zur Hälfte von den Vermietern
       getragen werden müssen, um sie zu bewegen, klimafreundlichere Heizungen
       einzubauen.
       
       ## Verkehr
       
       Auf dem Weg zur Klimaneutralität müssen bis 2030 rund 14 Millionen Pkws
       durch E-Autos ersetzt sein. 2020 waren es knapp 600.000 statt der
       versprochenen Million, allerdings mit zuletzt schnell steigenden Zahlen.
       Ein Enddatum für den Verbrennungsmotor, das die Umstellung der Flotten
       weiter beschleunigen würde, gibt es aber noch nicht.
       
       Will Deutschland sein Klimaziel für Netto-Null 2045 erreichen, müssten bis
       2030 die Passagierzahlen bei der Bahn um 70 Prozent zulegen, der
       Güterverkehr um 50 Prozent und der Nahverkehr um 100 Prozent. Davon ist die
       Deutsche Bahn aber weit entfernt: Vom Frühjahr 2020 zum Frühjahr 2021 brach
       der Fernverkehr auf die Hälfte ein, der Gütertransport stieg um gerade
       einmal 5 Prozent. Der Nahverkehr allerdings ging im Coronajahr sogar um 80
       Prozent zurück.
       
       ## Industrie
       
       Wichtigster Hebel für eine klimaneutrale Industrie ist „grüner“ Wasserstoff
       aus erneuerbaren Energien, den vor allem Stahl, Chemie und Zement brauchen,
       außerdem der Flug- und Schiffsverkehr. Die „nationale Wasserstoffstrategie“
       weist riesigen Bedarf für die kommenden Jahre nach – aber niemand weiß,
       woher der Stoff kommen soll. Der Aufbau einer Wasserstoffindustrie soll mit
       insgesamt 9 Milliarden Euro gefördert werden. Bis 2030 sollen – von
       praktisch null – 5 Gigawatt an Elektrolyseleistung stehen. Große Mengen
       sollen auch importiert werden. Unklar ist, aus welchen Ländern, zu welchen
       Preisen und zu welchen ökologischen Bedingungen.
       
       ## Landwirtschaft
       
       Dort müssten vor allem dringend die Tierbestände sinken und trockengelegte
       Moore vernässt werden, um ihre CO2-Emissionen zu reduzieren. Aber die Groko
       hat darauf bestanden: Über weniger Nutztiere wird nicht debattiert; auch
       Moorschutz gibt es nur freiwillig.
       
       Die Umsetzung der nun beschlossenen Ziele wird als Aufgabe also überwiegend
       an die nächste Regierung weitergereicht. Ob sie gelingt, bleibt beim Blick
       in die Wahlprogramme zweifelhaft, denn dort steht vor allem, was sich alles
       nicht ändern soll. Die Union will Klimaschutz ohne Verbote erreichen. Die
       SPD steht einer stärkeren Erhöhung des CO2-Preises aus sozialen Gründen
       skeptisch gegenüber. Die FDP lehnt Sektorziele ab und setzt stattdessen
       komplett auf den Emissionshandel. Die Linke lehnt diesen komplett ab und
       drängt stattdessen auf konkrete Vorgaben für die Industrie.
       
       Und selbst die Grünen scheuen sich teilweise, die nötigen Veränderung allzu
       deutlich anzusprechen. Sie haben für die Forderung nach einem etwas
       schnelleren Anstieg des CO2-Preises als ohnehin geplant heftige Kritik
       einstecken müssen. Und Anton Hofreiter erklärte im [4][taz-Interview], die
       Menschen könnten „Schweinebraten essen und danach nach Mallorca fliegen, so
       oft sie wollen“.
       
       Doch immerhin stellt keine Partei – bis auf die AfD – mehr die Ziele
       infrage. Der Streit wird sich künftig also darum drehen, wie sie erreicht
       werden können. Wie hart diese Debatte in Zukunft werden kann, zeigte die
       Abstimmung am Donnerstagabend. Obwohl sich fast alle einig waren, dass das
       Klimaschutzgesetz ein großer Fortschritt ist, stimmten die
       Oppositionsparteien dagegen.
       
       25 Jun 2021
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Koalitionseinigung-zum-Klimaschutz/!5777664
   DIR [2] /5-Jahre-Pariser-Klimaschutzabkommen/!5734348
   DIR [3] /Klimapolitik-der-Linken/!5777448
   DIR [4] /Anton-Hofreiter-ueber-Klimaschutz/!5773378
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Malte Kreutzfeldt
   DIR Bernhard Pötter
       
       ## TAGS
       
   DIR Schwerpunkt Fridays For Future
   DIR Schwerpunkt Klimawandel
   DIR GNS
   DIR Moor
   DIR Grünes Wachstum
   DIR Schwerpunkt Rassismus
   DIR Erneuerbare Energien
   DIR Svenja Schulze
   DIR Kohleausstieg
   DIR Wahlkampf
   DIR Schwerpunkt Bundestagswahl 2025
   DIR Schwerpunkt Klimawandel
   DIR Schwerpunkt Klimawandel
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Keine Einigung beim Moorschutz: Im Morast steckengeblieben
       
       Kurz vor Ende der Legislaturperiode legt das Umweltministerium eine
       Strategie zum Moorschutz vor. Die Agrarministerin lehnt diese weiterhin ab.
       
   DIR Klimaschutz im Kapitalismus: „Grünes Wachstum ist nicht möglich“
       
       Deutschland will bis 2045 klimaneutral werden. Aber geht das in unserem
       Wirtschaftssystem überhaupt? Ein Streitgespräch.
       
   DIR Proteste von Ende Gelände in Hamburg: „Es gibt eine koloniale Komponente“
       
       Klimakrise und Rassismus hängen für Aktivistin Elia Nejem zusammen. Deshalb
       will sie bei Ende Gelände einen migrantischen Protest starten.
       
   DIR Neubau von Anlagen nimmt zu: Mehr Windräder – und doch zu wenig
       
       Das Tal scheint überwunden: Dieses Jahr wird doppelt so viel Windleistung
       ans Netz gehen wie 2019. Doch zufrieden ist die Branche damit noch nicht.
       
   DIR Umweltministerin auf Abschiedstour: Die Macht der Machtlosen
       
       Svenja Schulze ist als Umweltministerin enorm erfolgreich gewesen. Doch die
       Hochwasserkatastrophe zeigt, wie wenig ihr Amt ausrichten kann.
       
   DIR Europäisches Energiecharta-Abkommen: Hartnäckig fossil
       
       Der Energiecharta-Vertrag ermöglicht Unternehmen die Klage auf hohe
       Entschädigung, wenn sie wegen Klimaschutzes erwartbare Profite einbüßen.
       
   DIR Klimaunion in CDU und CSU: Konjunkturbooster Klimaschutz
       
       Ein Verein wirbt innerhalb der Union für das 1,5-Grad-Ziel. Er will
       Solarpflicht für Neubauten, Aufrüsten von Windrädern – und schnelles
       Handeln.
       
   DIR Wahlprogramm der Union: Klima? Eine wolkige Angelegenheit
       
       Ein Entwurf für das Wahlprogramm der Union bleibt bei der Klimapolitik
       vage. Klarer positioniert die Partei sich bei der Inneren Sicherheit.
       
   DIR Deutsche Klimapolitik: Zu Hause klotzen, weltweit kleckern
       
       Das neue Klimagesetz bringt praktisch den Kohleausstieg bis 2030. Aber mehr
       Geld für arme Länder verspricht Kanzlerin Merkel nicht.
       
   DIR Nach der Karlsruher Klima-Entscheidung: Schneller, höher, weiter!
       
       Nach dem Karlsruher Beschluss will die Union „entfesselte“ Politik, die sie
       selbst lange blockiert hat. Die SPD legt ein neues Klimagesetz vor.