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       # taz.de -- Über Umwege und Sackgassen: Mit Philosophen im Anhänger
       
       > Auch auf den Spuren großer Metaphysiker verliert der Ethikrat die Vorzüge
       > schnellen Vorankommens nicht aus dem Blick.
       
   IMG Bild: Platz für eine kleine Bibliothek: Auf Reisen widmet sich der Ethikrat dem Seienden und Einen
       
       Kürzlich klingelte es an der Haustür und als ich öffnete, stand der
       Ethikrat vor mir. Der Ethikrat, das sind drei ältere Herren von geringer
       Größe, die mir [1][gelegentlich Handreichungen in Fragen praktischer Ethik]
       geben. „Wir wenden uns mit einem Anliegen an Sie“, sagte der Vorsitzende
       und zog seinen Hut in einem vollkommenen Halbkreis. „Wir hörten, dass Sie
       Richtung Italien fahren, und wollten fragen, ob Sie uns eine
       Mitfahrgelegenheit bieten könnten. Wir verfügen über einen Anhänger, den
       wir bei Ihnen ankuppeln würden.“
       
       „Warum nicht?“, sagte ich. „Wohin in Italien wollen Sie denn?“ – „Wir
       wollen den Spuren Pico della Mirandolas folgen, denn wir haben in letzter
       Zeit die Metaphysik stark vernachlässigt“, sagte der Ratsvorsitzende und
       klang schuldbewusst. „Oh ja“, sagte ich und hoffte, dass sich rechtzeitig
       zeigen würde, wo die Spuren Pico della Mirandolas zu finden waren, dessen
       Studium ich ebenfalls vernachlässigt hatte.
       
       Am nächsten Tag rumpelte es vor dem Haus, und als ich aus dem Fenster
       guckte, sah ich einen kleinen, uralten Anhänger mit Klappfenster, auf
       dessen Dach als Galionsfigur eine römische Göttin thronte. Der Rat winkte:
       „Wollen Sie sich einmal bei uns umsehen“, sagte der Vorsitzende voller
       Stolz, „es ist uns gelungen, eine kleine Bibliothek mit uns zu führen.“
       
       ## Langeweile und Zuversicht
       
       Tatsächlich stand im Anhänger eine ringförmige Mauer modrig riechender
       Bücher, in deren Mitte der Rat drei Klappstühle aufgestellt hatte. Die
       beiden Ratsmitglieder, die in der Regel schwiegen, hatten sich darauf
       niedergelassen. „Siamo filosofi“, las eines von ihnen aus einem
       zerfledderten Wörterbuch vor und wandte sich dann mir zu: „Grazie per noi
       portare.“
       
       „Gern geschehen“, sagte ich verdrossen. Wieso musste mich der Ethikrat auch
       im Fremdsprachenbereich hinter sich lassen? „Gute Fahrt, Sie werden sich
       sicher nicht langweilen.“ – „Wir sind zuversichtlich, während der Fahrt die
       Abhandlung über das Seiende und das Eine noch einmal durchzuarbeiten“,
       sagte der Ratsvorsitzende heiter. „Wie lange rechnen Sie für die erste
       Etappe?“ – „Bestimmt neun Stunden“, sagte ich düster und dachte an das
       letzte Mal, als das Auto in der Würde und Anfälligkeit seiner 19 Jahre
       zusammengebrochen war. „Umso besser“, sagte der Vorsitzende heiter und
       entnahm der Büchermauer einen dicken Band.
       
       Nach einer Stunde Fahrt flatterte aus dem Anhänger eine Fahne, auf der
       „Pause erbeten“ stand. Auf der Raststätte trank der Ethikrat einen Rotwein
       und stieß auf Italien an. „Haben Sie eine Frage für uns?“, wandte sich der
       Ratsvorsitzende zu meiner Überraschung an mich. Ich hatte ihn außer Dienst
       gewähnt, aber ich war froh, eine Frage stellen zu können, die mir beim
       Packen gekommen war, als ich mich fragte, wovon ich mich eigentlich erholen
       sollte, denn meine Erschöpfung schien mir weniger auf harte Arbeit, denn
       auf fortwährende Irrtümer und ihre Folgekosten zurückzuführen zu sein.
       
       „Woher kommt dieser Kinderglaube, dass es ein gelobtes Land gibt, aber hier
       auf Erden und nicht erst im Himmel?“, fragte ich den Rat. „Und warum glaube
       ich, dass ich, wenn ich mir nur Mühe gebe und ein paar Umwege und
       Sackgassen ertrage, dort lande?“ Der Ratsvorsitzende nippte an seinem
       Rotwein. „In unserer Nachbardisziplin, der Psychologie, geht man davon aus,
       dass zu einem mündigen Charakter Ambivalenztoleranz gehört“, begann er,
       aber ich unterbrach ihn. „Ich weiß“, rief ich, „aber könnte man diese
       Ambivalenztoleranz nicht auch mutlos finden und das Bestehen auf das Ideale
       konsequent? Also eine Art Hegelianische Entwicklung im Privaten, getragen
       von der Weigerung, sich mit dem Falschen abzufinden?“
       
       ## Festhalten am Leben ohne Schmerz
       
       „Hegel finde ich hier nicht unmittelbar“, sagte der Ratsvorsitzende, „eher
       ein, sagen wir, naives Festhalten an einem Leben ohne Schmerz.“ – „Aber Sie
       sind doch dem Idealismus verpflichtet“, rief ich. „Ja, und?“, sagte der
       Vorsitzende kühl. „Was folgern Sie daraus?“ – „Dass es mehr …“, begann ich,
       aber da hupte es laut.
       
       Die beiden Ratsmitglieder, die in der Regel schwiegen, hatten den Anhänger
       abgekoppelt und ihn an einen nachtblauen Alfa Romeo angekoppelt. Aus dessen
       Fenster sah ein bärtiger Mann und winkte dem Ratsvorsitzenden huldvoll zu:
       „Venite, per favore!“ – „Signore Eco, sind Sie zurück?“, rief der
       Vorsitzende und schien es nicht glauben zu können. „Entschuldigen Sie
       mich“, sagte er zu mir, aber es war keine Frage, und dann fuhr der Alfa
       Romeo in einer Acht, die ein Unendlichkeitszeichen hätte sein können,
       davon.
       
       18 Jul 2021
       
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   DIR [1] /Ueber-die-Erziehung-fremder-Kinder/!5777077
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Friederike Gräff
       
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