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       # taz.de -- Männliche Vormunde in Saudi-Arabien: Das Wali-System bröckelt
       
       > Saudische Frauen brauchen einen Vormund. Doch dessen Macht wird zunehmend
       > eingeschränkt. Nun können Frauen ihren Wohnsitz frei wählen.
       
   IMG Bild: Saudi-Arabien: Frauen ist es künftig ohne Zustimmung ihres „Wali“ erlaubt, allein zu leben
       
       Kairo taz | Es ist relativ still und leise geschehen, doch für viele Frauen
       in Saudi-Arabien könnte diese Reform weitreichende Folgen haben: Erstmals
       wird alleinstehenden, geschiedenen und verwitweten Frauen erlaubt, allein
       zu leben – auch ohne Zustimmung ihres sogenannten „Wali“, ihres männlichen
       Vormunds.
       
       Ein entsprechender Artikel im Verfahrensrecht der Scharia-Gerichte wurde
       gestrichen. Ersetzt wurde er durch einen Passus, der besagt, dass „eine
       erwachsene Frau das Recht hat, sich ihren Wohnsitz auszusuchen“. Familien
       können ihre volljährigen Töchter damit ab sofort nicht mehr anzeigen, wenn
       diese von zu Hause ausziehen.
       
       Saudi-Arabiens umstrittenes Wali-System hält Frauen in einem permanenten
       Status von Minderjährigen. Sämtliche Amtsgeschäfte konnten lange Zeit nur
       mit Zustimmung des Vormunds – meist des Vaters, Ehemannes oder Bruders –
       getätigt werden. Einen Pass zu beantragen, zu verreisen, zu studieren, ein
       Gefängnis oder sogar einen Schutzraum für missbrauchte Frauen zu verlassen
       bedurfte traditionell der Zustimmung des Wali.
       
       Das System beruht auf einer Koransure, die in den meisten islamischen
       Ländern inzwischen anders interpretiert wird und meist nur noch bei der
       Eheschließung gilt. In Saudi-Arabien dagegen kann der Wali bis heute in
       viele wichtige Lebensentscheidungen von Frauen eingreifen.
       
       ## Gesellschaftlicher Druck
       
       Nachdem saudischen Frauen 2018 endlich das Recht bekommen haben, selbst
       Auto fahren zu dürfen, war die Aufhebung des Vormundschaftssystems die
       wichtigste Forderung von saudischen Frauenrechtlerinnen. Aber weder die
       konservativen islamischen Rechtsgelehrten des Landes noch das Königshaus
       oder Kronprinz Mohammed bin Salman scheinen bereit, das System völlig
       aufzugeben.
       
       Doch wächst der Druck in der Gesellschaft, denn die Regeln widersprechen
       den Realitäten vieler saudischer Frauen, die inzwischen in leitenden
       Positionen sitzen oder sogar eigene Firmen leiten.
       
       Zunehmend wird das Wali-System daher Schritt für Schritt von oben
       ausgehöhlt. Die Reform geht dabei stets den gleichen Weg: Einzelne Rechte
       werden dem männlichen Vormund weggenommen und den Frauen vermacht.
       Neuerdings besagt eine Regel auch, dass Frauen, die eine Gefängnisstrafe
       abgesessen haben, nicht mehr in die Obhut ihres Wali übergeben werden. Und
       auch für die Hadsch, die muslimische Pilgerschaft nach Mekka, können sich
       Frauen seit dieser Woche allein registrieren.
       
       Generell aber bleiben die Reformen von Frauenrechten in Saudi-Arabien
       widersprüchlich: Einerseits vermarktet sich Mohammed bin Salman als
       gesellschaftlicher Reformer. Tatsächlich hat er in den letzten Jahren viele
       Bereiche für Frauen geöffnet. [1][Anderseits werden Menschen, die zu
       vehement Frauenrechte einklagen, weggesperrt.]
       
       [2][Das läuft schon seit Jahren so.] Vor zwei Jahren wurde Frauen in
       Saudi-Arabien erstmals das Recht gegeben, selbst einen Pass zu beantragen.
       Mit dem Recht, selbst den Wohnsitz wählen zu können, nach einer
       Gefängnisstrafe auch ohne Zustimmung des Wali freizukommen und sich allein
       für die Hadsch zu registrieren ist nun der nächste Reformschritt gekommen.
       Vor allem von der Wohnungsregelung werden viele Frauen betroffen sein.
       
       ## Gemischte Reaktionen
       
       Als „wichtigen und zivilisierten Schritt“ feiert die saudische Journalistin
       Laila Qahtani die neuen Rechte. „Wir werden jetzt ernsthaft darüber
       nachdenken, Immobilien zu kaufen“, twitterte sie. Aber nicht alle sind so
       begeistert: „Das ist wie eine Rebellion der jungen Frauen. Sie rebellieren
       gegen die Kontrolle durch ihre Familien und möchten tun und lassen, was sie
       wollen, egal, ob es richtig oder falsch ist“, beschwert sich der Anwalt
       Naif al-Mansi in der täglichen Fernsehshow „Hala“ des saudischen Senders
       Rotona Khaliji. Für ihn ist die Reform eine Horrorvision: „Da gibt es
       diesen wilden Wunsch der Frauen, ihre Rechte zu genießen. Aber die Frage
       ist: Muss das alles sein, nützt es oder ist es schädlich?“, fährt er fort.
       
       Aber viele saudische Männer stehen der Reform auch offen gegenüber. „Wenn
       eine junge Frau volljährig ist und allein lebt, dann ist das ihr legitimes
       Recht. Warum haben wir kein Problem damit, wenn ein Mann sich entscheidet,
       allein zu leben? Wenn eine junge Frau das Gleiche will, dann verweigern wir
       ihr dieses Recht“, sagte der saudische Anwalt Abdullah al-Majuf in der
       Talkshow „Eure Exzellenz der Bürger“ im Fernsehsender MBC.
       
       Außerdem, argumentiert er, werden viele Frauen einen guten Grund haben,
       wenn sie von ihren Familien wegziehen wollen. „Die Familie verbietet ihr zu
       arbeiten oder sich in gemischten Gruppen zu treffen. Sie verweigert ihr
       ihre Ausbildung. Sie erlaubt es ihr nicht, ein Handy zu haben. Sie erstickt
       sie förmlich. Wenn sie sich davon unabhängig machen kann, ist das eine gute
       Sache“, sagt er.
       
       Die saudische Anwältin Abrar Schaker äußerte allerdings im saudischen
       Fernsehsender Al-Arabiya die Befürchtung, dass konservative Familien es
       auch mit den neuen Regeln schaffen werden, ihre Töchter zurückzuholen.
       Demnach könnten sie die Töchter anzeigen, vermeintlich illegitime
       Beziehungen zu unterhalten oder Drogen zu konsumieren. „Dann werden sie
       angeklagt, nicht weil sie von zu Hause ausgezogen sind, sondern weil sie
       vermeintlich ein Verbrechen begangen haben.“
       
       Vielleicht könnte da der Vorschlag des saudischen Journalisten und Autors
       Abdullah Alami helfen. Wie wäre es, schlug er auf Twitter vor, wenn
       „saudische Frauen in Zukunft auch die Möglichkeit bekommen, Richterinnen zu
       werden“?
       
       18 Jun 2021
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Karim El-Gawhary
       
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