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       # taz.de -- Militärexperte über Aufrüstung in China: „Traum von einem starken Militär“
       
       > Der chinesische Militärexperte Zhao Tong erklärt, warum die Volksrepublik
       > China eine militärische Überlegenheit gegenüber den USA in Ostasien
       > erzielen will.
       
   IMG Bild: Moderne Kampfhubschrauber auf einer Ausstellung in Tianjin im Oktober 2019
       
       taz: Herr Zhao, der Westen bemüht sich, Chinas militärische Aufrüstung zu
       begreifen. Was ist Pekings übergeordnete Strategie? 
       
       Zhao Tong: Das erste Ziel Chinas besteht darin, seine – laut
       Eigenwahrnehmung – nationalen Interessen verteidigen zu können. Dazu
       gehören die nationale Vereinigung mit Taiwan sowie die Sicherung von
       Territorialansprüchen inklusive der Landgrenzen zu Indien und der maritimen
       Ansprüche im Südchinesischen Meer. Daneben hat China auch ein neues
       Bedürfnis, nämlich seine wachsenden Auslandsinteressen schützen zu können:
       etwa wirtschaftliche Investitionen oder die wachsende Anzahl an
       Staatsbürgern, die im Ausland Geschäfte machen oder studieren.
       
       Haben sich Chinas militärische Ambitionen verändert, seit Xi Jinping an der
       Macht ist und das Land zu neuer Größe führen möchte? 
       
       In Bezug auf die erwähnte erste Kategorie ist die Denkweise mehr oder
       weniger gleich geblieben. China sieht die größte Herausforderung seiner
       Sicherheitsinteressen durch andere Großmächte, die sich einmischen könnten.
       Geändert hat sich das Tempo der militärischen Modernisierung. In den
       letzten Jahren konnte China wegen des schnellen Wirtschaftswachstums mehr
       ins Militär investieren. Nachdem Xi Jinping an die Macht gekommen war, rief
       er dazu auf, den „Traum von einem starken Militär“ zu verwirklichen.
       
       Chinas Militärausgaben steigen jährlich um rund 7 Prozent, liegen aber
       weltweit an zweiter Stelle – deutlich hinter den USA. Kritiker sagen
       jedoch, die offiziellen Zahlen spiegeln Chinas militärische Macht nicht
       adäquat wider. 
       
       Als chinesischer Analyst bin ich nicht in der Lage, Chinas offiziell
       erklärte Militärhaushalte kritisch zu bewerten. Aber ich stimme Ihrer
       Beschreibung zu, dass ausländische Analysten unterschiedliche Ansichten
       darüber haben, wie glaubwürdig Chinas offizieller Haushalt tatsächlich das
       Niveau der Militärinvestitionen widerspiegelt. Sie weisen darauf hin, dass
       es schwer zu sagen ist, was genau im Verteidigungshaushalt enthalten ist,
       etwa bestimmte Ausgaben für Forschung und Entwicklung. Und natürlich muss
       man auch die Kaufkraft eines Landes berücksichtigen. Das würde die Höhe des
       chinesischen Budgets im Verhältnis zu den Ausgaben anderer Länder erheblich
       verändern.
       
       Beschleunigt der Westen – insbesondere die USA – mit seiner aggressiveren
       Chinapolitik die Militarisierung Pekings? 
       
       Nimmt China eine größere Bedrohung durch die USA wahr, wächst die
       Dringlichkeit Pekings, weitere militärische Macht aufzubauen, um dieser
       wahrgenommenen Bedrohung entgegenzuwirken. So hatte China bislang eine eher
       zurückhaltende Nuklearstrategie beibehalten. Das Nukleararsenal war
       jahrzehntelang viel kleiner als das der USA, weil Chinas allgemeine
       Sicherheitsbeziehung zu den USA während dieser Zeit zwar nicht gut, aber
       relativ stabil war. China sah keine unmittelbare nukleare Bedrohung durch
       die USA.
       
       Jetzt baut China sein Nukleararsenal schneller auf denn je. 
       
       Xi Jinping selbst hat dem Militär befohlen, die Entwicklung strategischer
       Abschreckungsfähigkeiten zu beschleunigen. Das ist ein deutliches Signal
       der obersten Ebene. Dahinter stehen mehrere treibende Kräfte: Ursprünglich
       war Chinas Ziel immer, eine überlebensfähige und sichere
       Zweitschlagfähigkeit aufzubauen, damit die USA nicht in Betracht ziehen
       würden, China zuerst mit Atomwaffen anzugreifen. Es braucht also nur
       ausreichend Atomwaffen, um einen amerikanischen Erstschlag zu überleben und
       dann Vergeltung gegen das US-Festland zu starten.
       
       Jetzt argumentieren viele chinesische Strategen jedoch, China müsse seine
       Nuklearmacht ausbauen, weil die USA eine viel stärkere Feindseligkeit
       gegenüber China zeigen. Analytisch betrachtet, ergibt das keinen Sinn. Denn
       egal wie feindselig Ihr Gegner ist: Solange Sie über eine sichere
       Zweitschlagfähigkeit verfügen, können Sie ihn davon abhalten, zuerst
       Atomwaffen einzusetzen.
       
       Inwieweit sollte das die USA beunruhigen? 
       
       Die USA machen sich nicht unbedingt Sorgen, China werde Atomwaffen in einem
       militärischen Konflikt zuerst einsetzen. Aber sie sorgen sich aus
       Ungewissheit, warum Chinas Militär seine Nuklearstreitkräfte aufbaut:
       Einige Kritiker argumentieren, China könnte in Zukunft seine traditionell
       bescheidene Nuklearhaltung ändern und sein Arsenal zunehmend als Mittel von
       Druckausübung statt Abschreckung einsetzen.
       
       Die USA haben immer noch etwa 12-mal so viele Atomsprengköpfe wie China. In
       anderen Bereichen hingegen wie bei den Seestreitkräften holt China rasant
       auf. 
       
       Schaut man sich die Zahl der Marineschiffe an, hat China bereits eine
       größere Zahl als die USA. Aber qualitativ besitzen die USA noch immer die
       deutlich fortschrittlicheren Marinetechnologien. China holt aber sehr, sehr
       schnell auf. Und die künftigen Entwicklungen sind aus US-Sicht wirklich
       besorgniserregend. Der US-Militärhaushalt dürfte auf absehbare Zeit
       stagnieren, nicht zuletzt gebremst durch die vielen checks and balances.
       China hingegen ist bereit, mehr ins Militär zu investieren, auch weil
       Chinas Öffentlichkeit die Rüstungsindustrie als Kerninteresse der Nation
       wahrnimmt. Der Rüstungssektor ist vor öffentlicher Kontrolle weitgehend
       sicher.
       
       China investiert massiv in künstliche Intelligenz und Big Data. Welche
       Rolle spielen Zukunftstechnologien beim Wettrüsten?
       
       Es ist schwer vorherzusagen, da beide Militärs ihre spezifischen
       KI-Programme sehr geheim halten. Auch lässt sich nicht leicht vorhersagen,
       welches Regierungssystem künstliche Intelligenz effizienter für die
       militärische Modernisierung nutzen kann.
       
       Wie meinen Sie das? 
       
       Chinas System ist eher zentralisiert und von oben herab. Zudem gibt es
       weniger Sorge um Privatsphäre oder rechtliche Einschränkungen. Und
       natürlich hat China auch die sogenannte zivil-militärische Fusionsstrategie
       implementiert, die es der Regierung ermöglicht, zivile Technologien für
       Verteidigungszwecke zu nutzen. In den USA herrscht ein anderes System vor:
       Programmierer müssen sich wirklich sorgen, ob sie gegen das Gesetz
       verstoßen oder in die Privatsphäre der Bevölkerung eindringen. In anderen
       Bereichen hingegen sind sie jedoch weniger eingeschränkt: Sie müssen sich
       keine Sorgen machen, die roten Linien der Regierung zu überschreiten, und
       können offener sein.
       
       Chinas Militär hingegen muss Zeit für Parteiversammlungen aufbringen, jede
       wichtige Rede der Führer studieren und alle möglichen Arbeiten für die
       Umsetzung der Parteipolitik erledigen. Nicht zuletzt haben
       US-Privatunternehmen manchmal stärkere Anreize, mit dem Militär
       zusammenzuarbeiten – ohne fürchten zu müssen, dass die Regierung ihnen
       willkürlich und entschädigungslos Patente wegnimmt.
       
       Ist es nur eine Frage der Zeit, bis Chinas Militär das der USA als Nummer
       eins überholt? 
       
       Ich kann mein Verständnis darüber darlegen, wie Chinesen denken: Letztlich
       entscheidet die wirtschaftliche Macht über die militärische. Kann Chinas
       Wirtschaft also künftig die US-Wirtschaft überholen, wird Chinas Militär
       früher oder später ebenfalls dominieren. Nach Einschätzung westlicher
       Wissenschaftler wird Chinas Wirtschaft schon 2028 an den USA vorbeiziehen.
       Das stimmt die Regierung zuversichtlich, dass sie die Zeit auf ihrer Seite
       hat. Deshalb setzt sie auch so stark auf wirtschaftliche Entwicklung: Die
       bestimmt alles andere.
       
       Insbesonders Europas Linke argumentiert, China habe nur einen einzigen
       Militärstützpunkt im Ausland und dürfe daher nicht als Bedrohung
       dämonisiert werden. Ist das naiv? 
       
       Kein Land entwickelt militärische Macht mit dem ausdrücklichen Ziel, andere
       Länder zu erobern. Alle Staaten, auch China, wollen nur ihre vermeintlichen
       nationalen Interessen verteidigen. Die Frage ist aber: Ist es wirklich
       legitim, diese Interessen mit militärischen Mitteln zu verteidigen? Etwa
       wenn ein Land einen Territorialstreit hat: Ist es dann okay, wenn es
       einfach seine militärische Macht nutzt? Oder sollte nicht das Völkerrecht
       eine Rolle spielen?
       
       Peking sieht eine mögliche US-Militärintervention als größte Bedrohung.
       Deshalb glaubt die Regierung, eine Militärmacht aufbauen zu müssen, die im
       Vergleich mit Washington und all seinen Verbündeten in der Region stark
       genug ist. Das Ziel ist zwar Selbstverteidigung, doch kann Chinas Ansatz
       von anderen als ehrgeizig angesehen werden, da Peking eine militärische
       Überlegenheit in der Region aufbauen muss, um dieses defensive Ziel zu
       erreichen.
       
       Und was passiert, wenn China dieses Ziel erreicht hat? 
       
       Dann wird Chinas militärische Überlegenheit die USA und ihre Verbündeten de
       facto davon abhalten, einzugreifen, wenn China seine nationalen Interessen
       durchsetzt. Beispiel Taiwan: Die nationale Vereinigung mit Taiwan ist ein
       wichtiges Ziel der aktuellen politischen Führung. Ich glaube aber nicht,
       dass man einen verfrühten Konflikt anzetteln möchte. Solange Zweifel
       bestehen, ob die USA intervenieren können, ist Chinas Militär noch nicht
       stark genug. Hat China jedoch eine offensichtliche militärische
       Überlegenheit erlangt, werden die USA wissen, dass sie diesen Konflikt
       nicht gewinnen können. Dann kann China sein Ziel erreichen, ohne einen
       Schuss abzufeuern.
       
       Die jüngsten Entwicklungen haben Chinas Denken bestätigt: Da es bereits
       eine gewisse militärische Macht gesichert hat, brauchte es sich auch keine
       Sorgen vor einem gewaltsamen Eingriff aus dem Ausland zu machen, als es
       Maßnahmen zur Bewältigung der Situation in Hongkong ergriff.
       
       Ist ein militärischer Konflikt zwischen den USA und China ein realistisches
       Szenario? 
       
       Ich glaube nicht, dass China einen Konflikt provozieren will. Die Priorität
       der Staatsführung ist klar: Es braucht Zeit, um eine umfassende nationale
       Macht aufzubauen. Ist Chinas Macht stark genug, kann es seine
       vermeintlichen Interessen verteidigen, ohne weiter kämpfen zu müssen.
       
       Können Verhandlungen das Wettrüsten zwischen beiden Mächten eindämmen? 
       
       Ich bin da sehr pessimistisch. Beide können sich nicht einmal mehr in
       grundlegenden Sachfragen einigen wie zum Beispiel bei Xinjiang. Der Westen
       glaubt, dass sich dort eine schreckliche humanitäre Krise ereignet. In
       China hingegen glauben die meisten Experten, dass diese Krise von
       westlichen Medien erfunden wird und dass die Regierungsmaßnahmen in der
       Region gegen keine rechtlichen oder moralischen Standards verstoßen.
       Stattdessen glauben sie, der Westen dämonisiere China absichtlich – etwa in
       Bezug auf Hongkong, Xinjiang oder Taiwan – und zwar nicht, weil man sich um
       Demokratie oder Menschenrechte schere, sondern aus Sorge, China könnte den
       Westen als dominierende Macht ablösen.
       
       Welchen Weg wird China gegenüber dem Westen wählen? 
       
       China hält es für nutzlos, den Westen im Dialog zu überzeugen zu versuchen.
       Vielmehr glaubt die Staatsführung, sie könne die Meinung der westlichen
       Länder nur dadurch ändern, indem sie eigene Macht aufbaut. Macht ist das
       Einzige, was der Westen respektiert. Dies heißt auch, dass es keinen
       innerchinesischen Konsens über Abrüstungskontrollen gibt, die Chinas
       militärische Entwicklung beschränken würden.
       
       6 Jul 2021
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Fabian Kretschmer
       
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