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       # taz.de -- Corona in Indien: Arme leiden an Lockdown-Folgen
       
       > In Indien ist die Zahl der Neuinfektionen zwar zurückgegangen. Doch viele
       > Menschen leiden nun stärker unter Nahrungsmangel als zuvor.
       
   IMG Bild: In der Siedlung Adivasi Wadi nahe Mumbai bekommen Bewohner:innen Nahrungsmittelhilfen
       
       Karjat/Mumbai taz | „Die meisten waren während des Lockdowns arbeitslos.
       Wir haben überlebt, weil wir Unterstützung bekommen haben“, sagt Bavi
       Waghmare. An der Siedlung der Saison-Feldarbeiterin im gelben Sari rauschen
       wieder Autos vorbei. Sie lebt in der Region Karjat, an einer der
       meistbefahrenen Autobahnen Indiens, dem Mumbai Pune Expressway. An der
       Straße liegen Naherholungsgebiete und ein Filmpark. Aber hier leben auch
       Adivasi, Nachfahren der Ureinwohner, wie Bavi Waghmare. Und deren
       wirtschaftliches Überleben hängt von der Öffnung des Landes ab.
       
       Anfang Mai waren Indiens tägliche Covid-19-Neuinfektionen auf mehr als
       400.000 gestiegen. Fast das ganze Land war im Lockdown. Inzwischen sind die
       Fälle auf um die 45.000 gesunken. Seitdem in der Folge die
       Coronarestriktionen gelockert wurden, ist es auf der Strecke des Mumbai
       Pune Expressway wieder laut. Doch das Problem der Versorgung mit
       Lebensmittel besteht weiter.
       
       Zwar bekommen die Adivasi hier – wie insgesamt 800 Millionen Inder:innen
       – wegen der Pandemie kostenloses Getreide vom Staat. Allein reiche das aber
       nicht. „Corona hat unseren ganzen Wirtschaftskreislauf ruiniert“, sagt eine
       andere Frau namens Hilaya, 45. Vor der Pandemie hatten viele im Dorf
       Gelegenheitsjobs, sie haben im nahen Staudamm gefischt oder im Filmstudio
       ausgeholfen. Dann folgte erneut ein Stillstand. Seitdem waren die
       Einkommensverluste groß. Indiens offizielle Arbeitslosenrate stieg im Mai
       von 8 auf fast 12 Prozent.
       
       Die Entwicklungsökonomen Jean Drèze und Anmol Somanchi bezweifeln, dass die
       Beschäftigung und Ernährung der Arbeiter:innen im informellen Sektor
       wieder das Vor-Pandemie-Niveau erreichen. Nach Angaben von
       Nichtregierungsorganisationen hätten viele Haushalte schon während des
       ersten Lockdowns weniger gegessen als zuvor. Die staatlichen Hilfen seien
       zu gering und zu lückenhaft, so Drèze und Somanchi. Es gebe die „ernsthafte
       Gefahr einer weiteren Welle von starkem Ernährungsmangel“. Mit der Pandemie
       sei Indiens Ernährungsunsicherheit gewachsen.
       
       In der Siedlung Adivasi Wadi, 60 Kilometer von Mumbai entfernt, ist Dank
       der Nahrungsmittelhilfen von Organisationen aus der Großstadt zwar der
       Hunger gebannt. Doch kann diese Hilfe keine langfristige Lösung sein. Es
       fehlt an Arbeitsplätzen. „Wir können uns nicht einmal die Schulgebühren
       leisten“, sagt der 20-jährige Yogesh Waghmare.
       
       Er hat seine Ausbildung abgebrochen. Das College sei zu weit entfernt, es
       gebe keinen bezahlbaren Transport. Viele Einrichtungen unterrichten
       weiterhin online, doch Yogesh überfordert die Bürokratie, um ein Stipendium
       zu beantragen, das ihm als Adivasi zustehen würde. Die Dorfgrundschule muss
       auch weiter geschlossen bleiben. Nur ein Mädchen aus den knapp 45 Familien
       hier besucht derzeit die 12. Klasse.
       
       Trotzdem hat das Dorf die Pandemie, die in Indien offiziell mehr als
       400.000 Tote gefordert hat, relativ gut überstanden. Auch in der
       Landeshauptstadt Mumbai kehrt eine gewisse Normalität zurück, wenngleich
       Handel und Restaurants weiter beschränkt bleiben. Im größten Slum Dharavi
       ist die Schlange vor dem Impfzentrum lang. „Die Senkung des Alters für
       kostenlose Impfungen hat geholfen“, sagt der leitende Arzt Asif Shaikh. Der
       27-Jährige kennt die Warnungen vor der dritten Welle. „Deshalb versuchen
       wir so viele Menschen wie möglich davor zu impfen.“
       
       Sorgen bereiten die Berichte über die neue Coronamutation Delta plus
       (B.1.617.2.1). Sie geht aus der [1][Deltavariante] hervor, die in Indien
       für die verheerende zweite Welle verantwortlich war und besitzt eine
       zusätzliche Mutation – K417N. Diese wurde in der Betavariante gefunden, die
       für einen massiven der Anstieg der Infektionen in Südafrika sorgte. Da
       derzeit erst gut 60 Delta-plus-Fälle bekannt sind, ist die Angst davor noch
       gering.
       
       ## Indien legt beim Impfen nach
       
       Derweil legt Indien beim [2][Impfen] nach. 296 Millionen Menschen (21
       Prozent) haben die erste Dosis und 69 Millionen (5 Prozent) die zweite
       erhalten. Expert:innen hoffen, dass eine dritte Welle geringer ausfällt,
       da sich viele Menschen bei der vorherigen bereits angesteckt hatten. Der
       Mathematiker Manindra Agarwal berechnete, dass ihr Höhepunkt im Oktober und
       November folgen könnte.
       
       Für die Menschen in der Adivasi-Siedlung sind solche Modelle weit weg. Sie
       spüren aber die Last der steigenden Preise für Benzin und Kochgas. Yogesh
       Waghmare ist pragmatisch. Wenn er nicht studieren kann, möchte er
       wenigstens Geld verdienen. Die Organisationen, die dem Dorf Nahrungsmittel
       zukommen ließen, besorgten auf Wunsch mehrere Holzkarren. Auf einem davon
       möchte er nun Obst und Gemüse verkaufen.
       
       8 Jul 2021
       
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