URI: 
       # taz.de -- Kinostart des Dramas „Der Rausch“: Jenseits von Hygge
       
       > Endlich läuft Thomas Vinterbergs oscarprämiertes Drama „Der Rausch“ in
       > den deutschen Kinos. Komik und Tragik liegen darin extrem dicht
       > beieinander.
       
   IMG Bild: „Dieses ganze Land ist doch ständig besoffen!“, bricht es aus Martins schwedischer Ehefrau heraus
       
       „Für Ida“ steht im Abspann [1][des Films, mit dem Thomas Vinterberg den
       diesjährigen Oscar für den besten fremdsprachigen Film gewann]. Ida, die
       19-jährige Tochter des Regisseurs, hatte eine Rolle in „Der Rausch“
       übernehmen sollen, starb jedoch noch zu Beginn der Dreharbeiten bei einem
       Autounfall. Jemand, der während des Fahrens auf sein Telefon gesehen hatte,
       war auf der Autobahn in ihren Wagen gekracht.
       
       Trotz dieser Tragödie wurde der Film fertiggedreht; und man kann sich gut
       vorstellen, dass die unmittelbare Erfahrung von so großem persönlichen Leid
       zu der emotionalen Dichte beigetragen hat, die im Spiel der DarstellerInnen
       spürbar wird.
       
       Zu Beginn allerdings, und genau darum geht es auch, ist bei den
       Hauptdarstellern eher das Gegenteil zu spüren. Vinterberg eröffnet die
       Spielanordnung dieses Dramas mit einem maximalen Kontrast. In den ersten
       Bildern wird ein ausgelassenes Saufspiel mit lauter Musik unterlegt:
       Jugendliche rennen mit Bierkästen zwischen sich um einen See. Bei jeder
       Bank wird gestoppt und eine Flasche leergetrunken; synchrones Kotzen gibt
       Punktabzug. Anschließend entert die enthemmte Meute eine U-Bahn und mischt
       dort fröhlich die soziale Ordnung auf.
       
       Umso stiller, ja stumpfer wirken die folgenden Einstellungen, die den
       [2][Lehrer Martin (Mads Mikkelsen)] und seine Kollegen zeigen. Alle haben
       längst die Freude an ihrer Arbeit verloren. Martin ist nicht bei der Sache
       und redet im Geschichtsunterricht Unsinn, Sportlehrer Tommy (Thomas Bo
       Larsen) liest Zeitung, während die Klasse Liegestütze absolvieren muss, und
       der Musiklehrer Peter (Lars Ranthe) lässt die Jugendlichen lustlos
       irgendwelche Chorsätze absingen.
       
       ## Die Philosophie der 0,5 Promille
       
       Es ist ihr jüngerer Kollege Nikolaj (Magnus Millang), der bei einem Essen
       zu seinem vierzigsten Geburtstag die allgemeine Stimmung thematisiert und
       erwähnt, es gebe da einen norwegischen Philosophen, der die Theorie
       vertrete, dass der Mensch mit 0,5 Promille zu wenig im Blut geboren werde.
       
       Bei nächster Gelegenheit macht Martin die Probe aufs Exempel, trinkt sich
       vor dem Unterricht genau 0,5 Promille an und ist begeistert vom positiven
       Effekt. Die vier Lehrer beschließen ein kontrolliertes Experiment: Ab nun
       werden sie nur noch mit einem 0,5-Promille-Pegel ihrer Arbeit nachgehen, in
       der Freizeit dagegen nüchtern sein.
       
       Dass es nicht leicht sein wird, einen solchen Selbstversuch allzeit unter
       Kontrolle zu behalten, kann man sich denken – vor allem, da die Probanden
       nach und nach beschließen, im Dienste der Wissenschaft den Promillegehalt
       weiter zu steigern. Doch zunächst sehen wir ihnen dabei zu, wie sie im
       sozialen Miteinander über ihr voriges Ich hinauswachsen.
       
       Martin, dessen abgrundtiefe Müdigkeit Mads Mikkelsen zu Beginn aus jeder
       Pore zu sickern scheint, wird (wieder?) zu einem zugewandten,
       selbstbewussten Pädagogen, der in der Lage ist, seine vormals so
       gelangweilte Oberstufenklasse mit neuen Denkansätzen zu inspirieren. Peter
       füllt traditionelles Liedgut mit neuer musikalischer Glut. Und Tommy wird
       beim Fußballtraining mit den Kleinsten auf einmal zum väterlichen Kümmerer.
       
       ## Das Leistungssystem Schule
       
       Das Erstaunliche an diesem Film ist, dass es Vinterberg am Ende tatsächlich
       gelungen ist, die Waagschale auszubalancieren: Er wertet nicht, sondern
       beobachtet nur – soweit man das von einem fiktionalen Werk überhaupt
       behaupten kann. Wer hier nach einer eindeutigen Botschaft sucht, wird
       jedenfalls mit leeren Händen abziehen müssen. Alkohol tut gut, Alkohol
       zerstört; beides ist der Fall, manchmal sogar gleichzeitig.
       
       Wenn es eine Sache gibt, die dieser Film einer am Ende eindeutig
       vernichtend ausgefallenen Prüfung unterzogen hat, dann ist es das
       Leistungssystem Schule. Wie kann es sein, dass diese Lehrertypen in
       mittleren Jahren schon derart abgestumpft und desillusioniert sind? (Das
       Schlimmste daran ist, dass – auch hierzulande – wahrscheinlich niemand
       diese Darstellung für sehr überzogen hält.)
       
       Warum fällt den OberstufenschülerInnen nichts anderes zur
       Freizeitgestaltung ein, als sich zu besaufen? Warum muss es diese
       stressbehafteten Abschlussprüfungen geben, und warum muss der Notenspiegel
       über die gesamte weitere Bildungslaufbahn entscheiden?
       
       Dass die Abifeier vor allem in einem riesigen allgemeinen, öffentlichen
       Besäufnis besteht, scheint Teil der dänischen Nationalkultur zu sein. Um
       die geht es unterschwellig stets mit. Auffällig oft erklingt während des
       Films patriotisches Liedgut; und stets wird es im Chor, oder im Kollektiv,
       gesungen. „Dieses ganze Land ist doch ständig besoffen!“, bricht es während
       eines Streits aus Martins schwedischer Ehefrau hervor.
       
       ## Prüfungsthema Kierkegaards „Der Begriff Angst“
       
       In der wohl ambivalentesten Szene des Films reicht Lehrer Peter einem von
       Prüfungsangst geplagtem Schüler seine eigene, mit Wodka gefüllte
       Wasserflasche, damit der Junge in der Lage ist, die mündliche Abiprüfung in
       Philosophie überhaupt durchzustehen. Das ist natürlich dick aufgetragen,
       und auch das Prüfungsthema passt etwas zu gut dazu: Kierkegaards „Der
       Begriff Angst“. Ein Hang zur Überdeutlichkeit ist Vinterberg durchaus
       eigen, das war bei „Das Fest“ oder „Die Jagd“ auch nicht anders.
       
       Aber genau dieser sich darin zeigende Wille, unbedingt verstanden zu
       werden, verleiht seinen Filmen auch eine große Aufrichtigkeit und
       Ernsthaftigkeit in der Beschäftigung mit dem jeweiligen Thema. Und auch
       wenn „Der Rausch“, ähnlich wie „Die Jagd“, mit seinem besonders genauen
       Blick darauf abzuzielen scheint, die dänische Hygge als trügerisch schöne
       Fassade zu entlarven, ist das, was dort hinter den Kulissen vorzufinden
       ist, keineswegs nationalspezifisch. Es ist vielmehr allgemeingültige
       menschliche Verkorkstheit.
       
       Und weil es in „Der Rausch“ auch um Enthemmung geht und darum, die Grenzen
       allgemeiner Verhaltensnormen zu überschreiten, bietet der Film viele
       komische Momente. Grenzverletzungen allerdings sind nur so lange komisch,
       bis sie in Kontrollverlust übergehen.
       
       Daher liegen Komik und Tragik hier extrem dicht beieinander, sind
       eigentlich kaum voneinander zu trennen, haben sie doch dieselbe Ursache:
       den Rausch. Mit einem veritablen solchen lässt Vinterberg den Film enden –
       und seinen Hauptdarsteller in einer weiteren künstlerischen Disziplin
       brillieren. Mads Mikkelsen war nämlich einst Tänzer, bevor er Schauspieler
       wurde.
       
       21 Jul 2021
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Verleihung-der-Oscars-2021/!5768652
   DIR [2] /Gala-der-European-Film-Awards-in-Berlin/!5733605
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Katharina Granzin
       
       ## TAGS
       
   DIR Kino
   DIR Dänemark
   DIR Alkohol
   DIR Lehrer
   DIR Oscarpreisträger
   DIR Selbstoptimierung
   DIR Literatur
   DIR Spielfilm
   DIR Spielfilm
   DIR Donald Trump
   DIR Schwerpunkt Filmfestspiele Cannes 
   DIR Musik
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Darstellung der Midlife-Crisis in Filmen: Alte Klischees mit neuer Heiterkeit
       
       Das Kino hat schon von der Midlife-Crisis erzählt, bevor es den Begriff
       gab. Auf Veränderung kommt es an, das zeigen viele der Filme.
       
   DIR Erzählungen von Tove Ditlevsen: Regenschirme im Patriarchat
       
       Mit ihrer autobiografischen Kopenhagen-Trilogie wurde die Schriftstellerin
       Tove Ditlevsen bekannt. Nun erscheint der Erzählungsband „Böses Glück“.
       
   DIR Film „Dumbledores Geheimnisse“ im Kino: Sehr besondere Lebewesen
       
       Der Fantasy-Film „Dumbledores Geheimnisse“ ist der dritte Teil von J. K.
       Rowlings „Phantastische Tierwesen“-Saga. Mads Mikkelsen spielt den
       Bösewicht.
       
   DIR „Helden der Wahrscheinlichkeit“ im Kino: Zusammenkunft der Versehrten
       
       „Helden der Wahrscheinlichkeit“ ist eine schwarze Komödie mit Mads
       Mikkelsen. Sie erzählt vom Kampf gegen Verlust und Trauer.
       
   DIR Die Wahrheit: Das Schimmern einer Tolle
       
       Der Hildesheimer Regisseur Wenzel Storch verfilmt das prächtige Leben des
       unvergessenen Donald Trump – auf dessen Wunsch.
       
   DIR Goldene Palme in Cannes: Julia Ducournau räumt ab
       
       Für den Film „Titane“ gewinnt die Französin als zweite Frau überhaupt bei
       den Hauptpreis. Ihr Werk sieht die Regisseurin als feministischen Beitrag.
       
   DIR Karen Black als Sängerin entdeckt: Rohdiamanten aus dem Backofen
       
       Als Schauspielerin wirkte Karen Black in vielen Filmen mit. Ein Album
       bringt der Nachwelt nun ihre großen musikalischen Fähigkeiten nahe.