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       # taz.de -- Verkehrswende mit Kiezblock: Kein Durchkommen
       
       > Schlupflöcher sperren, Schleichwege unterbinden: Gut platzierte Poller
       > wie der am Neuköllner Richardplatz können für Verkehrsberuhigung sorgen.
       
   IMG Bild: Kleiner Poller macht für Autos am Richardplatz die Straße dicht
       
       Berlin taz | „Die haben sich so geärgert“, erinnert sich Mir Ali Banerjee.
       Der Achtjährige wohnt im Kiez um den Neuköllner Richardplatz und ist oft
       mit Eltern und Freunden draußen unterwegs. Als er am 8. Mai, einem Samstag,
       zur Karl-Marx-Straße ging, stand am Ende des Richardplatzes ein Poller
       mitten auf der kopfsteingepflasterten Straße – der war neu. So neu, dass
       sich auf beiden Seiten die Autos stauten und weder vor noch zurück konnten.
       „Einer ist ausgestiegen und hat die Leute angeschrieen, die vor dem Späti
       standen und zuschauten“, erinnert sich Mir Ali.
       
       Am Tag zuvor hatte Neuköllns Bürgermeister Martin Hikel (SPD) getwittert:
       „Heute haben wir die Schnalle zwischen Karl-Marx-Platz und Richardplatz
       geschlossen. 4.000 Fahrzeuge haben sich hier täglich durchs Quartier
       gequetscht. Damit erhöhen wir die Lebensqualität erheblich. Danke an alle,
       die das unterstützt und vorangetrieben haben.“
       
       Die „Schnalle“ ist der Übergang zwischen Richardplatz und Karl-Marx-Platz
       und für viele Autofahrende ein beliebtes Schlupfloch durch den Kiez mit dem
       historischen Dorfplatz zwischen Sonnenallee und Karl-Marx-Straße.
       
       Tagelang ging es so weiter mit der Aufregung, mit viel Gehupe und einigem
       Gebrüll rund um diesen einen rot-weiß gestreiften Stahlpfeiler, 90
       Zentimeter hoch, 7 Zentimeter breit. Eine Woche später war er plötzlich
       weg, herausgerissen oder umgefahren und im Gebüsch entsorgt. Das Bezirksamt
       ersetzte ihn sofort.
       
       Mittlerweile ist es viel ruhiger geworden: Die einen Autofahrer haben sich
       die Begegnung mit dem neuen Hindernis gemerkt, die anderen werden von
       Google Maps, TomTom und Co umgelenkt, die den Poller auch kennen.
       
       Erstaunlich, welche Wirkung so ein Stück Metall haben kann. Auch anderswo
       ist das zu erleben, [1][etwa in der Kreuzberger Körtestraße], wo seit Ende
       Mai ein besonders stabiler, elektrisch versenkbarer Poller dafür sorgt,
       dass die Fahrradstraße auch wirklich eine bleibt – bei den vorangegangenen
       Versuchen mit dünneren Pfosten hatten sich immer wieder Motorisierte
       hindurchgequetscht.
       
       Der Poller vom Richardplatz ist übrigens nicht der erste Versuch, die
       Blechlawine aus dem Kiez zu vergrämen, schon 2003 hatte es eine
       Diagonalsperre im Kiez gegeben, als noch niemand das Wort
       [2][„Modalfilter“] dafür verwendete. Auch damals gab’s viel Wut, und im
       Gegensatz zu heute knickte der Bezirk ganz schnell ein und entfernte die
       Metallbügel wieder. Seitdem galt Tempo 10 rund um den Richardplatz – woran
       sich bis heute niemand hält. Vor Kurzem sind Bodenschwellen hinzugekommen:
       Die „Rixdorfer Kissen“ sorgen etwas effektiver für Entschleunigung.
       
       Kissen und Poller: Denen, die seit Jahren Druck auf Bürgermeister Hikel
       machen, reicht das nicht.
       
       Die Initiative „Mehr Kiez für Rixdorf“ hat das Konzept für einen „Kiezblock
       Rixdorf“ ausgetüftelt, der das gesamte Gebiet mit ein paar weiteren Pollern
       in vier Zonen aufteilt. Wer von einer der umgebenden Hauptverkehrsstraßen
       hineinfährt, muss es auch wieder dorthin verlassen, alle Schleichwege sind
       passé. Gerade haben die Aktivistinnen ihren ersten großen Etappensieg
       gefeiert: Die Neuköllner Bezirksverordnetenversammlung hat die Einrichtung
       eines Kiezblocks beschlossen, der sich an ihrem Konzept orientieren soll.
       
       Bleibt die Frage, ob die Verwaltung das auch umsetzt. Für Lena Osswald von
       „Mehr Kiez für Rixdorf“ ist das alternativlos: „Es wäre ein Missverständnis
       zu denken, dass ein Poller das Problem löst. Am Richardplatz ist es ruhiger
       geworden, dafür sind jetzt andere Straßen stärker belastet.“
       
       Nur: Guckt nicht am Ende immer jemand in die Röhre, im Zweifel die
       Menschen, die an den jetzt schon lauten Hauptstraßen wohnen? Verschiebt
       Verkehrsberuhigung nicht das Ärgernis einfach dorthin, wo ohnehin schon am
       prekärsten gewohnt wird? Das Problem ist auch Osswald bewusst: „Deshalb
       fordern wir gleichzeitig, den Verkehr auf den Hauptverkehrsstraßen zu
       beruhigen.“ Dort solle grundsätzlich Tempo 30 gelten, außerdem müsse der
       BVG-Bus auf der Saalestraße bevorzugt werden, der schon jetzt oft im Stau
       steckt.
       
       Vielleicht profitieren aber die an den lauten Rändern ja auch von den
       großen, ruhigen Räumen, die in den Kiezen entstehen. Mir Ali zum Beispiel
       schwärmt vom Böhmischen Platz, einer kleinen, aber sehr urbanen
       Fußgängerzone in Rixdorf, mit Tischtennisplatten und Sitzgelegenheiten,
       Späti und Restaurants, Kiezflohmärkten und spontanen Open-Air-Konzerten.
       Dass hier vor 2017 noch Autos fuhren, daran kann sich der junge Neuköllner
       gar nicht mehr erinnern – und er findet die Vorstellung regelrecht absurd.
       
       10 Jul 2021
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Kreuzberg-sperrt-Strasse-fuer-Autos/!5704341
   DIR [2] https://www.adfc.de/artikel/modale-filter-beruhigen-quartiere-und-schaffen-platz
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Claudius Prößer
       
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