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       # taz.de -- Utopie-Ausstellung in Hamburg: Der Dildo wippt
       
       > Eine andere Welt ist möglich – und sie ist knallbunt: Die Ausstellung
       > „Life On Planet Orsimanirana“ im Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe.
       
   IMG Bild: Sextoys warten: Touche-Touches „When Is Two One?“ und „New Cosmological Environment #1“ von Jerszy Seymour
       
       Hamburg taz | Es wabert: Sanfte Synthesizerflächen durchziehen den
       Ausstellungsraum, Gesprächsfetzen sind zu hören – Englisch, Spanisch, eine
       Sprache, die man nicht zuordnen kann, im Nebenraum spielt jemand
       Schlagzeug. Und man sinkt noch ein Stückchen tiefer ins Polster, in einen
       grob aus Schaumstoff zerfetzten Sessel. Die Sessel nennen sich „Meso-Antic
       Crêtakossian Slabs“ und wurden entworfen vom in Brüssel arbeitenden Kunst-
       und Designduo Carolin Gieszner und Théo Demans aka Touche-Touche. Sie sind
       zentrale Exponate der [1][Ausstellung „Life On Planet Orsimanirana“] im
       Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe: Weil sie schlicht überall
       rumstehen, lässt man sich beinahe instinktiv in einen hinein fallen, wenn
       man etwa ein Video anschaut.
       
       Zentral sind sie aber auch, indem sie in ihrer Stofflichkeit die
       Grundstimmung der Ausstellung so passgenau in Design übersetzen: brutal –
       und zugleich anschmiegsam. Die Beschreibung der Objekte im dazugehörigen
       Katalog trifft die Haltung hinter dem ganzen Projekt nahezu karikaturhaft
       gesteigert: „Hergestellt mittels einer DIY-Technik, bei der eine
       selbstbezogene Libido freigesetzt wird, sind die Sessel so gestaltet, dass
       sie mit anderen Dingen verschmelzen, um eine neue galaktische Ekstase zu
       erzeugen.“ Das ist so over the top, wie es gleichzeitig nicht falsch ist.
       
       ## Utopische Ästhetik
       
       Eine der interessantesten utopischen Gedankenspielereien ist, dass eine
       andere Welt möglich sein könnte: eine Welt ohne Sexismus, ohne
       kapitalistische Ausbeutungsverhältnisse, ohne Innovationszwang, ohne
       Stadt-Land-Gegensatz, überhaupt ohne Dichotomien. Queer, friedlich,
       kreativ. Der „Planet Orsimanirana“ ist so eine utopische Welt, weil man
       aber im Museum für Kunst und Gewerbe ist, geht es bei der Ausstellung nicht
       in erster Linie um ökonomische oder gesellschaftspolitische Fragen, sondern
       um Ästhetik: Wie sieht diese bessere Welt eigentlich aus? Wie ist dort das
       Zusammenleben gestaltet?
       
       Das Problem dabei: Allzu konkret kann die Ausstellung nicht werden, sonst
       gerät sie selbst in die – eigentlich zu vermeidenden – Verwertungslogiken.
       Entsprechend verschwimmen immer wieder die klaren Positionierungen, immer
       wieder wird das Gezeigte wolkig und verblasen. Es wabert.
       
       Es ist leicht, sich über „Life On Planet Orsimanirana“ lustig zu machen.
       Das geht schon beim Titel los, einem auf dem Italienischen basierenden
       Kunstwort: Es setzt sich zusammen aus „Orsi, dem der Bärenkopf, der
       widersprüchliche Emotionen wie Angst, Schuld und die Freude am Tod
       symbolisiert; „Mani“ sind die Hände, die für das Streben nach
       Unsterblichkeit durch den Einsatz von Technologie stehen; „Rana“
       schließlich, die Schenkel des Frosches, verweisen für die Fähigkeit, die
       Fesseln von Wahrnehmung, Denken und Körper zu sprengen.
       
       Ist das konkret, zugänglich gar? Natürlich nicht. Es sperrt sich, wie sich
       ein Ausstellungstitel nur sperren kann, in seiner mythologischen
       Überhöhung, in seiner Zungenbrecherhaftigkeit.
       
       Überhaupt mag Orsimanirana als Utopie ein Hierarchien verabscheuender Ort
       sein, aber eine Ausstellung so wenig barrierefrei zu gestalten wie diese,
       das muss man auch erst einmal hinbekommen: Eine Rauminstallation wie „Mud x
       Sand Bath“ der Kollektive Jerszey Seymour Design Workshop, Macao und
       Assemble beispielsweise schließt jedes mobiliätseingeschränkte Publikum von
       vornherein aus.
       
       Aber dieser Raum mit dem vielen Sand auf dem Boden gewinnt seinen Reiz eben
       gerade dadurch, dass er nicht einfach zugänglich ist. Er ermöglicht
       dem:der Besucher:in vielmehr ein intimes Körpererlebnis, das
       grundsätzlich nicht für selbstverständlich genommen werden sollte.
       Ursprünglich war „Mud x Sand Bath“ sogar noch radikaler geplant: als
       „warmes, ekstatisches Schlammbad“.
       
       Indem die Besucher:innen darin „eingetaucht wären“, weiß der Katalog,
       „wären sie Teil eines neuen modularen Bewusstseins geworden, das sie in die
       Lage versetzt hätte, die neue Welt zu erschaffen“. An gemeinsames
       Schlammbaden war in Zeiten von Corona nun nicht zu denken, schon die
       Sandfläche ist ein Kompromiss, der zeigt, an welche Grenzen die ästhetische
       Radikalität von Orsimanirana stößt.
       
       ## Beinahe nie zu sehen
       
       Ohnehin wäre die Ausstellung beinahe gar nicht fürs Publikum zu sehen
       gewesen: Ursprünglich sollte „Life On Planet Orsimanirana“ nur bis Ende
       Juni gezeigt werden, der Lockdown hielt das Museum dann bis Mitte des
       Monats geschlossen. Immerhin bis Ende Juli konnte die Laufzeit verlängert
       werden, und das ist gut.
       
       Denn auch wenn einige der entworfenen Utopien ins Digitale ausgreifen und
       ein zentraler Baustein des Orsimanirana-Kosmos [2][eine Radiostation] ist,
       die Kommunikation auch ohne körperliche Kopräsenz ermöglicht: Der Charme
       des Projekts erschließt sich doch eher vor Ort. In Arbeiten wie Tomasz
       Skibickis eigenartig organisch anmutenden Upcycling-Wohnobjekten. Oder in
       der „Maskenfigur Technik“ von Lavinia Schulz und Walter Holdt, einem 1923
       entstandenen Objekt aus der hauseigenen Sammlung.
       
       Dass die Ausstellung hier auf das Museum Bezug nimmt, ist ein Pluspunkt.
       Kuratiert hat „Life On Planet Orsimanirana“ ein internationales Team,
       bestehend aus dem britisch-kanadischen Designer Jerszy Seymour, Amica Dall
       vom Londoner Architekturkollektiv Assemble und Emanuele Braga von der
       Mailänder Künstler:innen- und Aktivist:innengruppe Macao. Immer
       wieder aber werden Hamburger Besonderheiten integriert oder Positionen
       dortiger Künstler:innen gezeigt, etwa ortsgebundene Arbeiten von den
       [3][Hallo: Festspielen] oder aus [4][dem Gängeviertel].
       
       „Life On Planet Orsimanirana“ ist leichtgewichtig und weltumfassend,
       breitet die Arme aus –und verschließt den Zugang gleich wieder. „A
       non-gesamt Gesamtkunstwerk“ ist der gleichermaßen hübsche wie wenig
       erläuternde Katalog untertitelt. Die Ausstellung ist also ein Widerspruch
       in sich, vergleichbar am ehesten mit einem gelungenen Pop-Festival, das
       einerseits Barrieren abbauen will, andererseits aber gar nicht für alle
       zugänglich sein kann.
       
       Ein zentraler Raum ist dementsprechend das Radiostudio, in dem diverse
       Utensilien zur Benutzung freigegeben sind: Gitarren, Synthesizer, Drums.
       Aber Vorsicht – den diesen Instrumenten innewohnenden Heterosexismus sollte
       man nicht unerwähnt lassen, weswegen das queerfeministische Berliner
       Tattoostudio Muschi Muschi sowie das Partynetzwerk Daddies On Acid die
       Geräteschaften mit Sextoys und tätowierter Kunsthaut modifizieren. Ziel
       sind „pumpende, postpatriarchale Beats und Rhythmen“, die „zur Schaffung
       der neuen Gesellschaft beitragen“ sollen.
       
       Also: Der Dildo wippt, die Travelpussy pumpt, der Bass wummert. Behaupte
       niemand, dass das zugänglich sei. Sage aber auch niemand, das sei nicht
       geil.
       
       30 Jun 2021
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.mkg-hamburg.de/de/ausstellungen/aktuell/life-on-planet-orsimanirana.html
   DIR [2] http://www.radio-orsimanirana.com/
   DIR [3] /Wasser-Festival-in-Hamburg/!5520148
   DIR [4] /Mitstreiterin-ueber-10-Jahre-Gaengeviertel/!5617516
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Falk Schreiber
       
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