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       # taz.de -- Bildband mit Fotos aus DDR-Betrieben: Gesichter der Arbeit
       
       > Günter Krawutschkes Fotos zeigen Arbeit und Gemeinsinn im Sozialismus.
       > Neben Heroismus sind Überanstrengung und veraltete Maschinen zu sehen.
       
   IMG Bild: Lenchen Möller macht sich hübsch, VEB Elektrokohle Lichtenberg (EKL), Berlin, 1979
       
       Großformatige Aufnahmen von Menschen bei der Arbeit. Rauchende Schlote und
       schwitzende Männer in Schutzkleidung. Mützenbewehrte Gesichter schauen mit
       zeitlosem Ausdruck in die Kamera. Alles natürlich in Schwarz-Weiß. Als Kind
       des Ruhrgebiets kenne ich solche Aufnahmen gut. Fotoausstellungen auf Zeche
       Zollverein oder im Duisburger Landschaftspark Nord weisen große Ähnlichkeit
       mit Günter Krawutschkes Bildern aus den „Volkseigenen Betrieben“ Ostberlins
       auf, die nun im Sammelband erschienen sind. Dabei gibt es jedoch
       entscheidende Unterschiede.
       
       Nach einer [1][Ausstellung im Berliner Technikmuseum 2019] hat dieses
       gemeinsam mit dem be.bra Verlag das Fotobuch „Gesichter der Arbeit“
       veröffentlicht, das am 23. Juni im wiedereröffneten DDR-Museum vorgestellt
       wurde. Günter Krawutschke wurde 1940 in Staßfurt, Sachsen-Anhalt geboren
       und zog 1956 nach Ostberlin. Dort arbeitete er zunächst als Kameraassistent
       für den Deutschen Fernsehfunk, danach als Bildreporter für die Berliner
       Zeitung und absolvierte parallel eine Fotografenlehre und ein Fernstudium
       an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig.
       
       In den vergangenen Jahren erwarb das Technikmuseum über 17.000 Arbeiten des
       Fotografen. Alle Bilder im Band schoss Krawutschke mit seiner
       Pentacon-Kamera. Unter den Fotos befinden sich ausdrucksstarke Porträts,
       dynamische Gruppenszenen und detailreiche Nahaufnahmen, Totalen von
       Kokereien, Hochöfen und Hafenanlagen. Der Vorzeigebrigardier Gehrard Voß
       schaut klug und gelassen, Lenchen Möller von [2][Elektrokohle Lichtenberg]
       lacht mit zwei Goldzähen verschmitzt dem Fotografen entgegen. In ihrer Hand
       ein Kamm – wollte sie sich doch gerade noch für das Porträt hübsch machen.
       
       Mehr noch als von ihrer Industriegeschichte erzählen die Bilder davon, wie
       die Gesellschaft der DDR funktionierte. Vergleicht man die Aufnahmen aus
       Berlin und Umgebung zum Beispiel mit jenen des britischen Fotografen Peter
       Dewhurst, fällt die Abwesenheit von privatem Raum auf.
       
       ## Individuum oder Kollektiv
       
       Während Dewhursts Fotos aus dem nordenglischen Sheffield der 70er Jahre
       großes Augenmerk auf das Zuhause und die individuelle Freizeitgestaltung
       seiner Bewohner legen, zeigen Krawutschkes Bilder das Kollektiv.
       Kantinenszenen, gemeinsame Pausengymnastik oder die Faschingsfeier der
       Elektro-Apparate-Werke in Treptow anstelle des einzelnen Bergmanns am
       Tresen oder des stolzen Taubenzüchters mit seinem Siegervogel. Im
       Sozialismus gehörte eben auch die Freizeit der Gemeinschaft.
       
       Ein weiterer Umstand fällt noch mehr ins Auge. Frauen sind allgegenwärtig
       in „Gesichter der Arbeit“. Entlang der Rangiergleise schreitet eine
       Bahnbrigade den Betrachter:innen entgegen. Auf den Köpfen der glücklich
       dreinblickenden jungen Männer sitzen Eisenbahnermützen, ihre Handschuhe
       haben sie ausgezogen und halten sie locker in den Händen. Vorweg, mit
       selbstbewusstem Ausdruck läuft die Vorarbeiterin, Notizblock und Stift in
       der Hand.
       
       In der DDR übte beinahe jede Frau einen Beruf aus. Auch in der traditionell
       männerdominierten Industrie betrug ihr Anteil immerhin 41 Prozent. Während
       die BRD noch lange an Gesetzen wie dem Gehorsamkeitsparagrafen festhielt,
       der die Einwilligung des Ehemannes zur Erwerbstätigkeit von Frauen
       vorschrieb, waren im Osten gleiche Bezahlung bei gleicher Arbeit gesetzlich
       festgeschrieben. Auch wenn Frauen in Führungspositionen eher eine
       Seltenheit blieben, lag die DDR bei ihrer Beschäftigungsquote an der
       Weltspitze.
       
       ## Tatkraft und Missstände
       
       Ist das Buch also ein Loblied auf den Sozialismus? Nicht ganz. Neben
       ungezwungenem Umgang von Vorgesetzten mit Untergebenen und der heroischen
       Tatkraft des Kollektivs zeigen Krawutschkes Bilder eben auch Missstände in
       den volkseigenen Betrieben auf. Neben Kameradschaft und Gemeinsinn sieht
       man Überanstrengung, fehlenden Arbeitsschutz und veraltete Maschinen. Der
       junge Mann, der sich weg von seiner Arbeit an der Metallpresse der Kamera
       zudreht und sich das schweißnasse Gesicht abwischt, wirkt völlig erschöpft.
       
       Wie aus der Zeit gefallen scheinen einige Bilder. Dass es sich bei der
       Abbildung des Warnstreiks der Ostberliner Müllfahrer um eine Aufnahme aus
       dem Jahr 1990 handelt, verrät lediglich die Bildunterschrift. Genauso gut
       könnte das eine von Anton Tripps Industriefotografien aus dem Ruhrgebiet
       der 1950er Jahre sein.
       
       Nach Ende des Zweiten Weltkriegs kam es in der sowjetischen Besatzungszone
       zu massiven Demontagen in den Bereichen Bergbau, Metall- und
       Chemieindustrie. Im Rahmen der Reparationsleistungen verlor die DDR bis
       1953 fast ein Drittel ihrer Produktionsmittel. Der Inhalt ganzer Fabriken
       wurde nach Russland transportiert, Braunkohlebagger, Walzen und Pressen
       wurden verladen, Bahnstrecken wurden abgebaut. Das wirkte sich auf die
       Arbeitsweise in der DDR aus.
       
       Dass Handarbeit angesagt war, zeigen Krawutschkes Fotos beim Verlegen von
       Abwasserrohren durch eine Baubrigade in Marzahn. Auch die Problematik der
       Wende bleibt nicht unbeachtet. Die letzten Seiten des Buches zeigen Streiks
       und CDU-Wahlplakate – Vorboten des Niedergangs der Ostindustrie.
       
       1 Jul 2021
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Fabian Schroer
       
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