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       # taz.de -- TV-Bürgersprechstunde mit Putin: Ganz nah am Volk
       
       > Russlands Präsident beantwortet mal wieder Zuschauerfragen und wirbt für
       > eine Corona-Impfung. Die Fragen wurden vorher ausgewählt.
       
   IMG Bild: Showtime für Wladimir Putin im russischen Fernsehen
       
       Moskau taz | Einmal im Jahr stellt sich der russische Präsident Wladimir
       Putin den Fragen der Bürger. 2020 musste die Bürgerbefragung erstmals
       ausfallen. Pandemie und Verfassungsänderungen wurden meist als Grund
       genannt. Am Mittwoch war der Präsident jedoch wieder zurück, sah aus als
       sei er in der Zwischenzeit keine Sekunde gealtert. Auch der „Bürgerstunde“
       war ein neues Format verpasst worden, die sich weniger als Befragung denn
       als eine Unterhaltung mit dem Kremlchef darstellt.
       
       Die Bürger wandten sich mit SMS und Videos an den Präsidenten. Bis zum
       Sendebeginn um 12 Uhr mittags sollen fast zwei Millionen Fragen eingegangen
       sein. Zwei junge Frauen begleiteten den Präsidenten auf dem neuen Weg. Sie
       redeten auch mal dazwischen, wenn sie es für angebracht hielten. Wladimir
       Putin wirkte aufgeräumt und machte eine gute Figur. Um den Auftritt war im
       Vorfeld nicht so viel Aufmerksamkeit entstanden, wie in den Vorjahren.
       
       Wladimir Putin antwortete nicht mehr wie aus der Pistole geschossen.
       Stattdessen ließ er die Fragesteller ausreden, wirkte oft nachdenklich und
       überlegt. Er beherrscht das neue Image. Natürlich waren die Fragesteller
       zuvor in einem Auswahlverfahren bestimmt worden. Nichts war dem Zufall
       überlassen. Auch wenn das neue Format den Eindruck erweckte, alles laufe
       live ab.
       
       Am Tag des „direkten Drahts“ verzeichnete Russland mit 669 Corona-Toten
       wieder einen neuen Rekord. Zudem wurden 21042 Neuinfektionen registriert.
       Zurzeit kämpft Moskau mit der ansteckenderen Delta-Variante, die auf die
       schleppende Impfkampagne in Russland zurückgeführt wird.
       
       ## Verbreitete Impfskepsis
       
       Die Menschen sollten auf Empfehlungen von „Experten“ hören, nicht auf
       „Gerüchte“ meinte Putin im Fernsehen. [1][In Russland ist die Impfskepsis
       besonders verbreitet]. Nach Monaten Versteckspiel räumte der Kremlchef am
       Mittwoch ein, dass er sich mit dem russischen Impfstoff „Sputnik V“ vor
       drei Monaten habe impfen lassen. Warum er daraus ein Geheimnis machte und
       die Impfskepsis im Land noch beförderte, beantwortete der Kremlchef nicht.
       
       Laut Putin hätten mindestens 23 Millionen Menschen von 146 Millionen Russen
       inzwischen eine Impfdosis erhalten. Nach unabhängigen Quellen liegt der
       Anteil der Geimpften bei 15 Prozent. Demnach ist das Ziel des Kreml, 60
       Prozent der Bevölkerung bis zum Herbst zu impfen, nicht mehr zu erreichen.
       „Ich unterstütze Pflichtimpfungen nicht“, sagte Putin und schob die
       Verantwortung unterdessen auf Regionalbehörden, die Schutzmaßnahmen wie
       eine Impfpflicht anordneten.
       
       Auch die Stadt Moskau hat eine Art Impfpflicht eingeführt. Unternehmen in
       der Hauptstadt müssen nachweisen, dass 60 Prozent ihrer Belegschaft geimpft
       sind. Trotz aller Lockerheit fiel dem Präsidenten das Thema schwer. „Die
       Impfung ist ungefährlich“, sagte Putin und behauptete, dass das russische
       Vakzin besser sei als andere Impfstoffe.“ Gott sei Dank, gibt es bei uns
       keine solchen tragischen Situationen, wie nach der Impfung mit Astrazeneca
       und Pfizer“, sagte Putin und rief die Bürger noch einmal zur Impfung auf.
       
       Die meiste Zeit der knapp vier Stunden widmete sich der Präsident wie in
       den vorangegangen Sendungen Fragen des alltäglichen Lebens. Wann kommt die
       Gasleitung in den Kaukasus, was müssen die Bürger dafür zahlen?
       
       ## Ständige Störmanöver
       
       Kleinteilige Anliegen, für die Putin früher keine Zeit hatte. Diesmal
       erkundigte sich der Präsident bei den Organisatoren, ob sie auch die
       persönlichen Daten der Fragesteller hätten. Die Nähe zum Volk war [2][vor
       den Dumawahlen im September] Leitmotiv der Veranstaltung.
       
       Einmal rutschte es dem Kremlchef dennoch heraus. Wenn es nicht ständig
       Störmanöver gebe, so der Präsident – damit waren die USA und der
       Oppositionelle Alexei Nawalny gemeint,- wären die wissenschaftlichen
       Fortschritte Russlands schon beeindruckend.
       
       Auch die Ukraine musste herhalten. Angeblich würde sie aus dem Ausland
       gesteuert. „Die Schlüsselfragen der Lebensfähigkeit der Ukraine werden
       nicht in Kiew, sondern in Washington und teilweise in Berlin und Paris
       gelöst“, sagte der Präsident. Warum solle er sich mit Präsident Wolodymir
       Selensky treffen, „wenn er sein Land komplett unter Verwaltung von außen
       gebracht hat“, so der Kremlchef. Russen und Ukrainer seien eigentlich ein
       und dasselbe Volk, so Putin. Das ukrainische Volk verhalte sich gegenüber
       Russland nicht unfreundlich. „Aber die heutige Führung steht uns eindeutig
       unfreundlich gegenüber“, meinte Putin.
       
       Bei dem Zwischenfall im Schwarzen Meer in der vergangenen Woche zwischen
       den USA, Großbritannien und russischer Kriegsmarine sah Putin eine
       „Provokation“ am Werk. Es war zu Auseinandersetzungen mit den westlichen
       Schiffen gekommen. Aus Sicht des Westens hat Russland die Krim
       völkerrechtswidrig besetzt.
       
       Abschließend bedankte sich der Präsident bei den Mitarbeitern der
       chemischen Reinigung seines Vertrauens, die sich täglich darum bemühe, dass
       er wie aus dem Ei gepellt aussieht. Auch das hatte eine neue Qualität.
       
       30 Jun 2021
       
       ## LINKS
       
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