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       # taz.de -- Kanadas Nationalfeiertag: Mahnwachen statt Jubelfeiern
       
       > Eigentlich feiern die Kanadier am 1. Juli. Seitdem hunderte Gräber
       > indigener Kinder gefunden wurden, steckt die Nation in einer
       > Identitätskrise.
       
   IMG Bild: Mahnwache für die verstorbenen indigenen Kinder in Kanada am 1. Juli in Sakatchewan
       
       Vancouver taz | Normalerweise ist der 1. Juli für die meisten Kanadier ein
       Grund zur Freude. An ihrem Nationalfeiertag „Canada Day“ zelebrieren sie
       die Gründung ihres Staates vor 154 Jahren. Im ganzen Land kommen Familien
       und Freunde zusammen: zum Grillen im Park, zu Festumzügen, zum Feuerwerk.
       Viele tragen dabei stolz Weiß und Rot, die Nationalfarben, die auch die
       Flagge Kanadas zieren.
       
       Doch dieses Jahr waren viele Kanadier nicht in Feierlaune. Viele Städte
       sagten alle Canada-Day-Veranstaltungen ab oder stampften sie radikal ein –
       wegen Corona, aber nicht nur. Vor dem Parlamentsgebäude in Ottawa fanden
       nicht wie üblich ein Konzert und Feuerwerk statt, stattdessen wehte die
       Fahne auf Halbmast. Statt Weiß und Rot trugen viele Kanadier gestern
       Orange.
       
       Orange steht in Kanada für Solidarität mit den indigenen Bewohnern, und
       davon braucht es dieses Jahr reichlich: Seit an mehreren ehemaligen
       Internaten Kanadas [1][hunderte anonyme Gräber indigener Kinder] gefunden
       wurden, befindet sich das Land in einer Art Identitätskrise. Nicht wenige
       Kanadier hatten unter dem Stichwort #CancelCanadaDay gefordert, den Tag
       ganz ausfallen zu lassen.
       
       „Wenn ihr den Canada Day schon feiert, dann versteht, was ihr eigentlich
       feiert: die Unterdrückung der Ureinwohner, die Massengräber. Das ist die
       Geschichte Kanadas“, forderte die indigene Aktivistin Nakuset bei einer
       #CancelCanadaDay-Kundgebung in Montréal, an der am Donnerstag Hunderte
       teilnahmen. Viele trugen orangene T-Shirts mit der Aufschrift: „Bring our
       children home.“
       
       ## „No pride in genocide!“
       
       Nur einen Tag zuvor hatten Experten auf dem Gelände eines Internats in der
       westkanadischen Stadt Cranbrook weitere 182 anonyme Gräber gefunden. In der
       Nähe der St. Eugene Mission School wurden laut Stammesältester vermutlich
       Kinder im Alter von sieben bis 15 Jahren verscharrt. Insgesamt starben in
       Kanadas Internaten bis zu 6.000 indigene Kinder, die meisten an Krankheiten
       wie Tuberkulose.
       
       Auf Mahnwachen und Demonstrationen wurde gestern der Kinder gedacht: In
       Ottawa steckten Aktivisten 967 orangene Flaggen ins Gras – stellvertretend
       für die 967 anonymen Gräber, die zuletzt an zwei ehemaligen katholischen
       Internaten im Westen des Landes gefunden wurden. „Diese Kinder hatten keine
       Stimme. Hiermit geben wir ihnen eine Stimme“, meinte Organisator William
       Blackstock.
       
       Bei einer Aktion in Halifax lasen Demonstranten Textstellen aus dem
       [2][Abschlussbericht der kanadischen Wahrheits- und Versöhnungskommission]
       vor und riefen „no pride in genocide“. Die Kommission hatte die Praxis in
       den Internaten in ihrem Abschlussbericht 2015 als „kulturellen Genozid“
       bezeichnet, unter anderem, weil den Kindern dort ihre traditionellen
       Sprachen verboten wurden, um sie zu assimilieren.
       
       In einem Park in der zentralkanadischen Stadt Winnipeg stießen Aktivisten
       eine Bronzestatue von Königin Victoria vom Sockel. Während ihrer
       Regentschaft Ende des 19. Jahrhunderts hatte die Regierung in Kooperation
       mit den Kirchen beschlossen, alle indigenen Kinder in Zwangsinternate zu
       stecken, um ihre kulturelle Identität zu brechen. Die letzte der insgesamt
       138 Schulen schloss in den 1990er Jahren.
       
       Premierminister Justin Trudeau trug der gedämpften Stimmung Rechnung, indem
       er den Feiertag ohne große Fanfare im Kreise der Familie verbrachte. In
       seiner traditionellen Canada-Day-Botschaft gestand er ein: „Vielen
       indigenen Bewohnern ist nicht nach Feiern zumute.“ Dem müsse man Raum
       geben. Zugleich müsse die „entsetzliche“ Geschichte der Internate
       aufgearbeitet werden.
       
       Zu einem bewegenden Abschluss der Aktionen kam es am Abend am Golden Lake
       in der Nähe von Ottawa. Begleitet von traditionellen Gesängen und
       Trommelschlägen zündeten Angehörige der Algonquin First Nation dort bei
       Einbruch der Dunkelheit hunderte Kerzen am Seeufer an – um den Seelen der
       verlorenen Kinder damit symbolisch einen Weg nach Hause zu ermöglichen.
       
       2 Jul 2021
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Indigene-in-Kanada/!5782998
   DIR [2] https://nctr.ca/records/reports/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Jörg Michel
       
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