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       # taz.de -- Album des Duos Lucy & Aaron: Cut-up mit den losen Fäden
       
       > „Lucy & Aaron“ veröffentlichen neuen Experimental-Pop. Dabei entlocken
       > sie Synthesizer und Stimmsample einen regelrechten Schluckauf.
       
   IMG Bild: Auch beim Foto Mash-up: Lucrecia Dalt und Aaron Dilloway
       
       Es sind gewisse Parallelen in den Heimstudios der [1][kolumbianischen
       Künstlerin Lucrecia Dalt] und ihres US-Kollegen Aaron Dilloway zu
       entdecken. Neben etlichen Synthesizern und Verstärkern liegen dort eine
       Reihe Gegenstände und Materialien zum Experimentieren herum.
       
       So kann man Lucrecia Dalt etwa in einem Video von einem Auftritt im
       Berliner Haus der Kulturen der Welt dabei zusehen, wie sie Signale über
       Membrane auf ein Metallpapier jagt und auf diese Weise Klänge erzeugt, und
       auch Aaron Dilloway lässt Interessierte im Netz an seiner Arbeit teilhaben:
       Während des [2][ersten Lockdowns streamte er eine Performance], bei der
       Hühner auf Becken, Metallen und Gitarren herumpicken. Interessant, diese
       Chickensounds aus dem Klanglabor.
       
       Die 41-jährige Dalt und der 45-jährige Dilloway haben nun ein Duo-Album
       namens „Lucy & Aaron“ aufgenommen. Beide sind hochgeschätzt in der
       experimentellen Musikszene: Aaron Dilloway ist in der Nähe von Detroit
       aufgewachsen, bekannt wurde er [3][mit der Band Wolf Eyes, deren
       Kracheskapaden auf der Bühne für Noise-Fans einer Offenbarung glichen.]
       
       2005 verließ er die Band, seither nahm er zahlreiche Soloalben, aber auch
       diverse Kollaborationen mit anderen Künstler:innen auf. Zudem betreibt
       er das unabhängige Label Hanson Records, auf dem das Album auch
       veröffentlicht wird.
       
       ## Field Recordings in Kolumbien
       
       Lucrecia Dalt, die in der Stadt Pereira geboren ist, aber seit einigen
       Jahren in Berlin lebt, wurde vor allem mit ihren beiden jüngsten
       Synthie-Alben „Anticlines“ (2018) und „No era sólida“ (2020) international
       gefeiert. Dalt und Dilloway kennen sich bereits seit zehn Jahren, 2019
       haben sie ein Tape veröffentlicht. Und vergangenes Jahr streckten sie bei
       gemeinsamen Field Recordings die Mikrofone in den kolumbianischen Regenwald
       und fingen das Zischen, Zirpen und Zwitschern ein.
       
       Die Aufnahmen auf „Lucy & Aaron“ halten den Erwartungen, die man an ein
       solches Projekt haben kann, stand. Das liegt in erster Linie daran, dass
       die Sounds zwar hochgradig verspielt und verfrickelt klingen, aber immer
       wieder auch Songelemente, wiedererkennbare Strukturen und Samples im
       Mahlstrom zu vernehmen sind.
       
       Wenn man genau hinhört, kann man sogar Spurenelemente von Pop- und
       Folksongs ausmachen. Im zweiten Stück „Demands of Ordinary Devotion“ hört
       man zum Beispiel auf einer Ebene repetitive, maschinelle Geräusche, aber
       darunter liegt eine Gesangsspur Dalts, die auch eine eingängige Hookline in
       einem Popsong abgegeben hätte.
       
       Ähnlich funktioniert dies im daran anschließenden „Yodeling Slits“, hier
       bilden Dalts Stimme und die Synthesizer einen melodischen Part, dazu
       gesellen sich kühle, gleich getaktete Klänge. Auch „Niles Baroque“ und „The
       Blob“ könnte man im (aller-)weitesten Sinne als Experimental-Pop
       bezeichnen. Gelegentlich wird die Stimme auch extrem verfremdet wie in
       „Bordeándola“ (bei dem schätzungsweise Dilloway singt).
       
       ## Als hätten Synthesizer und Stimmsample Schluckauf
       
       Der Gesang legt sich in dem Stück über aquatisches Geblubber und langsame
       Synthesizertöne und klingt, als würde man [4][Musik von Tom Waits] in
       falscher Geschwindigkeit abspielen. In „Voyria“ dagegen ertönt
       hintergründig eine Piano-Melodie und im Vordergrund ein Flattern, in „Tense
       Cuts“ sind Orgel-Loops zu hören, im „Partnertrack“ „Tender Cuts“ macht es
       den Anschein, als hätten Synthesizer und Stimmsample einen Schluckauf.
       
       So wie bei den beiden Stücken werden lose Fäden an anderer Stelle des
       Albums manchmal wieder aufgenommen. „Lucy & Aaron“ ist ein sehr sorgfältig
       gearbeitetes und durchdachtes Album. Inspiration beziehen beide
       Musiker:innen unter anderem aus der experimentellen Literatur, sie sind
       große Fans von [5][William S. Burroughs]’ und Brion Gysins Cut-up-Methode.
       
       Dieses Prinzip übertragen sie nicht selten auf die eingespielten Sounds.
       Die aktuelle Musiksoftware, etwa von der Berliner Firma Ableton, ist ja
       auch fast schon auf solche Techniken ausgelegt.
       
       Eingespielt und produziert hat das Duo die Musik an drei verschiedenen
       Orten, in Dilloways Wohnort Oberlin, Ohio, in Berlin und New York. Die
       Produktion ist ebenfalls akribisch, wie sich das für Klangfetischisten
       gehört. Mit jedem weiteren Hören erschließt sich eine noch tiefer liegende
       Schicht, ein neues Nebengeräusch, eine weitere Spur.
       
       „Lucy & Aaron“ ist ein nachhaltiges Hörerlebnis. Wer sich für
       experimentelle Musik interessiert, kommt um diese Musik ohnehin nicht
       herum.
       
       12 Jul 2021
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.hkw.de/en/app/mediathek/video/79449
   DIR [2] https://www.youtube.com/watch?v=SmaHRm12ITM
   DIR [3] /Noise-Festival-in-Hamburg/!5579635
   DIR [4] /Kinofilm-The-Dead-Dont-Die/!5602596
   DIR [5] /Burroughs-Ausstellung-in-Karlsruhe/!5088391
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Jens Uthoff
       
       ## TAGS
       
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