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       # taz.de -- Neue Filme von Laura Poitras: Totaler Kontrollverlust
       
       > Im Neuen Berliner Kunstverein zeigt Laura Poitras neue Arbeiten.
       > Schockierend ist das Anwenden von Spyware gegenüber
       > Menschenrechtler:innen.
       
   IMG Bild: 800 Betten gibt es im Gefängnisschiff Vernon C. Bain Correctional Center
       
       Man wird langsam herangeführt an die Gräuel dieser Zeit in Laura Poitras'
       neuesten Videoarbeiten, die in Kooperation mit Sean Vegezzi entstanden sind
       und aktuell im Neuen Berliner Kunstverein (nbk) gezeigt werden.
       Herangeführt an das Gefühl der Hilflosigkeit angesichts übermächtiger
       Strukturen.
       
       Poitras kennt sich mit staatlichen Repressionen aus. [1][Die
       US-amerikanische Filmemacherin steht seit ihrem Film über die US-Besetzung
       des Irak „My Country, My Country“ auf der terrorist watch list]und scheute
       auch vor der Zusammenarbeit mit Amerikas Staatsfeind Nummer eins nicht
       zurück: [2][2014 veröffentlichte sie mit „Citizenfour“ einen Film über den
       Whistleblower Edward Snowden.]
       
       Es ist besonders hilflos, wer den übermächtigen Strukturen nicht entfliehen
       kann; eingesperrt auf einem riesigen Gefängnisschiff zum Beispiel.
       Besonders bedrohlich wirkt das vor New York vertäute Schiff, das entweder
       der Brutalismus-Hoch-Zeit oder Gotham City entsprungen sein muss, weil es
       in Poitras’ Film nur von außen zu sehen ist.
       
       Möglicherweise sehen wir an einer Stelle Inhaftierte über einen Zaun lugen,
       ansonsten geben nur die abgefangenen Funksprüche der Wärter:innen
       Einblick in den Gefängnisalltag. Und der ist hart: Regelmäßig kommt es zu
       Gewalteskalationen, Bränden oder Pfeffersprayeinsätzen. Die Pandemie
       scheint hier nicht zu existieren, immerhin werden die Insassen regelmäßig
       in Schlafsälen mit 50 Betten unter Quarantäne gestellt. Da wundert es kaum,
       dass das Schiff unter den Gefängnissen in New York die höchste
       Covid-19-Todesrate verzeichnet.
       
       ## Gefängnisinsassen vergraben Leichen auf Hart Island
       
       Gänzlich Horroratmosphäre versprüht auch der nächste Film. „Hart Island“
       ist eine Insel wie aus einem Stephen King-Roman entsprungen: verlassene
       Gebäude, tote Bäume und eine ganze Menge Leichen. Die müssen
       Gefängnisinsassen von Rikers Island hier nämlich regelmäßig vergraben, wenn
       niemand Anspruch auf die Toten erhebt oder sich die Angehörigen kein
       Begräbnis leisten können.
       
       Die Häftlinge sieht man so im kalten Frühlingswind auf den Massengräbern
       stehen, auf Erde wartend, die ein Bagger ihnen vor die Füße wirft.
       Abstandsregeln befolgen auch sie im pandemiegebeutelten New York nicht. Als
       Zuschauer:in ist man hier ganz nah dran: Kameradrohnen sind für filmische
       Einsätze wie diese ein echter Gewinn.
       
       Wie gefährlich der Fortschritt durch Technik aber auch für jeden Einzelnen
       werden kann, wird im letzten Raum im nbk deutlich, der sich gänzlich der
       digitalen Überwachung widmet. Poitras ist in der Vergangenheit selbst Opfer
       von Überwachung geworden. 2012 ist die 57-Jährige deswegen sogar nach
       Berlin gezogen, um ihre Quellen zu schützen.
       
       Für ihr neues Projekt „Terror Contagion“ dokumentierte die Regisseurin die
       laufenden Ermittlungen von Forensic Architecture gegen den israelischen
       Cyberwaffenhersteller NSO Group. In einigen Ländern, darunter auch die USA,
       ist es der Firma eigentlich untersagt, zu agieren, doch ihre Spyware
       Pegasus ermöglicht es trotzdem, weltweit Menschen zu überwachen.
       
       ## Spyware kann eigenständig Nachrichten senden
       
       Ein falscher Klick auf dem eigenen Smartphone, und schon kann Pegasus alles
       mitlesen und sogar selbst Nachrichten verschicken. Die Interessentenliste
       der Software liest sich wie ein Who’s who der evil states: Saudi-Arabien,
       die Vereinigten Arabischen Emirate; auch in einigen diktatorisch regierten
       afrikanischen Staaten ist die Firma aktiv.
       
       Besonders fassungslos machen die Zielpersonen, die Opfer von Pegasus
       werden: Darunter sind Journalist:innen, Menschenrechtler:innen und
       Aktivist:innen. [3][Auch die Ermordung des saudischen Journalisten Jamal
       Khashoggi soll mithilfe der NSO Group ermöglicht worden sein,] was das
       Unternehmen bestreitet.
       
       Überhaupt scheint die Firma kein Problem damit zu haben, dass sie
       Diktaturen ihre schmutzige Arbeit erleichtert. Ihre Kunden nutzten die
       Dienste der NSO Group lediglich, um gegen Terrorismus vorzugehen, sagt
       Mitgründer Shalev Hulio. Dass Staaten wie Saudi-Arabien ein anderes
       Terrorverständnis haben als die meisten westlichen Staaten, ist anscheinend
       zweitrangig.
       
       9 Jul 2021
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Julia Hubernagel
       
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