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       # taz.de -- Roman „Der Himmel ist ein kleiner Kreis“: Die Worte der anderen
       
       > Carolina Schutti zeigt in ihrem aktuellen Roman, wie eindringlich sich in
       > klarer Sprache eine unbeschreibliche Einsamkeit beschreiben lässt.
       
   IMG Bild: Wolkenhimmel mit Vögeln
       
       Rätselhaft ist die Welt, in die uns Carolina Schutti in ihrem Roman „Der
       Himmel ist ein kleiner Kreis“ wirft: Wir begegnen einer namenlosen Frau,
       die in einer „Anstalt“ untergebracht ist, weil sie die Kontrolle über die
       Kernelemente des Ichs – ihren Körper, ihre Sprache, ihre Emotionen –
       verloren hat. Hypersensibel und wach zeigt sie sich für die Welt der Dinge;
       die Worte der anderen scheinen hingegen durch sie hindurchzudiffundieren.
       Alles und nichts trifft sie.
       
       Die zweite Frau der Geschichte, Ina, bricht ohne nachvollziehbare Erklärung
       nach Sibirien auf. Ein eher windiger Mann namens Boris bringt sie dorthin,
       wo man das Ende der Welt vermuten darf. Über Monate lebt sie völlig
       abgeschnitten von der Welt; Ina muss sich auf alles vorbereiten – den
       Hunger, die Wölfe, die Einsamkeit.
       
       Die Namenlose erzählt ihre Geschichte selbst, im Präsens – stimmiger
       Ausdruck ihrer inneren Isolation, die vielleicht, vielleicht auch nicht,
       Ergebnis der Medikamente ist. „Die Tablette bewirkt: Kein Empfinden, wenn
       ich die Hände zu Fäusten balle. Wenn ich die Kiefer zusammenpresse, bis es
       knirscht. Wenn ich leise, sodass mich keiner hört, zischende Fluchwörter
       ausstoße. In mir bleibt alles ruhig.“
       
       ## Ich habe die Kontrolle verloren
       
       Der Essayist Mark Fisher hat einmal geschrieben, dass die meisten Bücher
       und Filme über Wahnsinn ein entgrenztes Ich darstellen. Tatsächlich aber
       flute im Wahnsinn die Welt in das Ich und umgekehrt. Das illustriert auch
       Schutti: „Fünf Wörter wenigstens: Ich habe die Kontrolle verloren. Oder
       sechs: Ich muss raus aus meinem Kopf.“
       
       Aber die Welt drückt sich mit aller Macht in den Kopf wie die Kälte in den
       Körper: „Ich stehe am Waschbecken, drücke mir ein kaltes, nasses Handtuch
       ins Gesicht, drücke mir die Kälte in die Poren, mehr davon, mehr, ich fülle
       eiskaltes Wasser in einen Becher, trinke, bis es schmerzt.“
       
       Ida, von der uns eine Erzählerstimme berichtet, scheint der Namenlosen in
       diesem Punkte nicht unähnlich. Die eiskalte Welt außerhalb der Halle, in
       der sie Boris zurücklässt mit dem Versprechen, schon bald wiederzukehren,
       schließt sich wie ein enger Kreis um sie.
       
       ## Agenten des anderen
       
       Der einzige Vertraute der Namenlosen in der Anstalt ist Mark, der aber
       buchstäblich blass bleibt. Der da ist und nicht da, vielleicht nicht nur im
       Kopf der Erzählerin existiert. Dasselbe gilt für Boris, der zwar
       plastischer wird, aber ebenso schnell verschwindet, wie er aufgetaucht ist,
       und Ina auf sich zurückgeworfen allein lässt. Beide Männer sind Agenten des
       anderen, eine Art Spiegel des Ichs. Vor allem bewirken sie, dass die Frauen
       im Dialog mit sich selbst bleiben.
       
       Ein verbindendes Motiv – ein wachsender Ausschlag auf der Haut samt
       fürchterlichem Jucken – verdeutlicht dem Leser, dass diese beiden Frauen
       mehr verbindet als ihre Form des In-der-Welt-Seins und eine
       unbeschreibliche Einsamkeit. Die Frage nach der Verlässlichkeit der
       Erzählinstanzen scheint sich gar nicht mehr zu stellen: Zu traumartig, zu
       rätselhaft ist die erzählte Welt.
       
       Klar und nüchtern dagegen ist Schuttis Sprache, sozusagen ganz in der Welt
       verankert. Es ist eine Sprache, die in kreisenden Bewegungen die
       Empfindungen und Erlebnisse umschreibt, sich ihnen annähert, erst zögerlich
       tastend, dann forscher.
       
       ## Souveräne Autorin
       
       „Ina blickt in die Richtung, in der sie die Winterstraße vermutet, als
       könne sich ihr Blick durch das Gebüsch schlagen, durch den Wald schlängeln,
       als wäre ihr Blick ein Geräusch, das der Wind in die Ferne trägt.“ Man
       lässt sich beim Lesen treiben, das Lesen kennt kein Ziel, man erwartet
       keine exakte Auflösung der Frage: Was bewegt denn nun eigentlich diese
       Frau(en).
       
       „Der Himmel ist ein kleiner Kreis“ zeigt die Österreicherin Schutti als
       Autorin, die souverän ihr sprachliches und erzählerisches Handwerk
       beherrscht.
       
       14 Jul 2021
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Marlen Hobrack
       
       ## TAGS
       
   DIR Literatur
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   DIR Quentin Tarantino
   DIR Literatur
   DIR Ingeborg-Bachmann-Preis
       
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