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       # taz.de -- Vergangenheit in Pommern: Die Schuld meiner Mutter
       
       > Die Mutter war Vertriebene und starrsinnig, was den Holocaust angeht.
       > Unsere Autorin reist nach Pommern, wo alles seinen Anfang nahm.
       
   IMG Bild: Ein Stein zeugt noch vom Gutshaus
       
       Ein Backstein liegt jetzt in meinem Kofferraum, ein zerbrochener Klinker.
       Er ist graugrün, an den Bruchstellen kommt der ziegelrote Ton hervor. Ein
       alter Stein. Wo war sein ursprünglicher Platz? Was hat er gesehen? Sicher
       ist: Bevor er auf einem Schutthaufen landete und später in meinem Auto, saß
       er im Gemäuer des Geburtshauses meiner Mutter.
       
       Mein Bruder Nik und ich sind auf der Fahrt von Kołobrzeg (deutsch Kolberg)
       nach Koszalin (Köslin) entlang der polnischen Ostseeküste. Vor dem Hotel
       Gromada in der Ulica Zwycięstwa (zwischenzeitlich Adolf-Hitler-Straße)
       treffen wir Henryk Gaweł, 61 Jahre alt, Fremdenführer und Professor für
       Germanistik und Geschichte an der Koszaliner Universität. Das polnische
       Fremdenverkehrsamt in Berlin hat ihn vermittelt.
       
       Wir sind auf der Suche nach dem Elternhaus unserer Mutter; ohne ortskundige
       Führung würden wir es kaum finden. Auf Google Earth sieht man einen Punkt
       mit Namen Wojęcino (Wojenthin) etwa 26 Kilometer südöstlich von Koszalin
       und 14 Kilometer westlich der Kleinstadt Bobolice (Bublitz), in einem
       Waldgebiet.
       
       Nik ist 72 Jahre alt, ich 64. Es hat lange gedauert, bis wir uns zu dieser
       Reise entschlossen. Wir wollten die alten Geschichten nicht wieder
       aufwärmen.
       
       Die Geschichte unserer Mutter ist für uns beide schmerzhaft, in doppelter
       Hinsicht. Da ist unsere Liebe zu ihr, da ist Trauer über den Verlust von
       Heimat und Besitz, aber auch Scham und Schuldgefühl. Wir wissen seit
       Langem, dass die romantischen und humorvollen Anekdoten unserer Mutter aus
       ihrer Heimat in Pommern nur die eine Seite der Medaille waren. Auf der
       anderen entdeckten wir eine ewiggestrige und starrsinnige Frau, die sich
       nicht in die Haut anderer Opfer von Krieg und Vertreibung einfühlen konnte
       oder wollte.
       
       [1][1918 wurde unsere Mutter Eva Holtz in Wojenthin geboren]. 26 Jahre hat
       sie dort gelebt – bis 1944 „die Russen“ kamen. Nik und mir ist Wojenthin
       vertraut. Dabei kennen wir es nur von Fotos. Aber seit wir denken können,
       hat Mutter davon erzählt: von ihrem Zimmer im Turm des Hauses mit dem
       weiten Blick auf Park und Wälder, von Großvaters Kaminzimmer, wo er nach
       dem Essen mit seinen Jagdfreunden Zigarre rauchte. Von Rhesusaffen, die
       Großmutter Wanda im Berliner Zoo kaufte und ihren Verehrern aus Schabernack
       ins Gästezimmer jagte. Von Cherub, ihrem Vollblutwallach. Mit Pferd trat
       sie bei Paraden für den Kaiser auf, im Sportpalast und in der Weimarer
       Republik auf der Grünen Woche. Es gibt noch einen Zeitungsausschnitt mit
       Großmutter Wanda, elegant in Husarenuniform und im Damensattel.
       
       Es waren schwierige Zeiten nach dem Ersten Weltkrieg – mit Inflation und
       hoher Arbeitslosigkeit. Es gab Apfelsinen und Bananen, aber nicht jeder
       konnte sie sich leisten. Doch Wanda hatte Geld, sie brachte ihren Kindern
       Früchte mit nach Pommern.
       
       Wojenthin lief wie ein zweiter Faden durch unsere Kindheit und Jugend in
       Westdeutschland. Zu Weihnachten backten wir Gewürzpfefferkuchen, die
       schmeckten „wie in Wojenthin“. Im Sommer gingen wir durch Kornfelder, und
       Mutter erinnerte sich an die Mohn- und Kornblumen ihrer Jugend. Wir lebten
       in den 50er und 60er Jahren in Schleswig-Holstein. In den Ferien fuhren wir
       mit den Eltern an die Ostsee zum Baden, nach Strande, Laboe und Schilksee.
       Für uns Kinder war das „das“ Paradies. Für Mutter nur ein Abklatsch dessen,
       was sie in ihren Schulferien am Strand von Kolberg erlebt hatte. „Wir
       hatten den feinsten, weißen Sand, schöner als hier.“ Und dann der herrliche
       Kapellenteich in Wojenthin …
       
       Mutter weinte über das verlorene Land, die gestohlene Freiheit, den
       geraubten Besitz, dass sie ihre Kinder nicht in Pommern haben durfte. Sie
       lebte lange in der Vorstellung, eines Tages nach Wojenthin zurückzukehren.
       
       Auf dem Flüchtlingstreck Richtung Westen hatte sie tote Babys gesehen,
       Mütter, die ihre sterbenden Kinder am Straßenrand zurückließen. Alte
       Menschen, die sich frierend und hungernd durch die Kälte schleppten.
       Einmal, erzählte sie uns, habe der Treck auf einem großen Bauernhof Halt
       gemacht. Die Pferde brauchten Wasser und Heu, die Flüchtlinge Schlaf. Da
       waren aber schon sowjetische Soldaten. Meine Mutter suchte panisch ein
       Versteck. In der Tenne entdeckte sie eine große Haferkiste und schlüpfte
       hinein, unbemerkt von den bereits angetrunkenen Rotarmisten.
       
       Mutter war fest überzeugt, dass sie einen Schutzengel gehabt hatte. Sie
       konnte sich retten, andere nicht. In ihrem Versteck hörte sie das Flehen,
       das Jammern und Schreien der Frauen, die vergewaltigt wurden.
       
       Wir Kinder hörten diese Geschichten und hatten großes Mitleid mit ihr. Uns
       kam es so vor, als hätten wir das alles selbst erlebt. Jedenfalls begriffen
       wir früh, dass Flucht und Vertreibung Menschen zeitlebens schwer auf der
       Seele liegen. „Wohl besonders schwer, wenn sie großen Besitz und
       Adelsprivilegien verloren haben“, meint Nik nüchtern.
       
       Ich erinnere mich, wie ich als kleines Mädchen an der Hand von Mutter in
       der Kieler Ostseehalle stand. Um mich drängten sich die Erwachsenen. Ich
       sah nichts, hörte nur, dass es um etwas ganz Großes, Wichtiges gehen
       musste. „Unsere Heimat werden wir niemals aufgeben“, schrie ein Mann ins
       Mikrofon, „Pommern ist unser.“ Tosender Beifall.
       
       Das Vertriebenentreffen war kein Ort für Kinder, aber es sollte nicht das
       letzte sein, auf das Mutter uns damals mitnahm. Wir verfolgten die
       Übertragungen der Debatten aus dem Bundestag. Das Thema Vertriebene, die
       Frage der Teilung Deutschlands, elektrisierten unsere Eltern. [2][Als dann
       in den 70er Jahren die Annäherung an Polen und die Sowjetunion diskutiert
       wurden], geriet Mutter in Verzweiflung: „Die Oder-Neiße-Linie als Grenze zu
       Polen, nicht mit uns!“ Das war nun das neue Mantra in unserer Familie. Mit
       Russen, mit Kommunisten verhandeln, auf keinen Fall. „Die kennen nur eine
       Sprache: Härte.“
       
       Im Hotel Gromada beugt sich Henryk Gaweł über eine Landkarte. Er stammt aus
       der Gegend um Koszalin, aber vom ehemaligen Rittergut Wojenthin hatte er
       bis zu unserem Anruf noch nie gehört. Er begleitet öfter Familien aus
       Deutschland in Westpommern, meist Kinder von Flüchtlingsfamilien, die nach
       Spuren ihrer Eltern suchen. „Aber es werden weniger“, meint Gaweł.
       
       Zwei Tage zuvor ist er mit seiner Frau ins Dorf Wojęcino gefahren, er
       wollte sicher gehen, uns an den richtigen Ort zu führen. „Es wird nicht
       leicht, das Haus eurer Mutter wiederzufinden“, bereitet er uns vor. „Es
       gibt keine Wege, alles ist zugewachsen. Zieht feste Schuhe an.“ Er hatte
       einen Dorfbewohner angesprochen, ob man das ehemalige Gut Wojenthin noch
       finden könne. Der Mann habe beide in den Wald mitgenommen. Nur jetzt, ohne
       den freundlichen Dorfbewohner, weiß Henryk Gaweł nicht, wo genau es war.
       Nik und ich sind skeptisch. Werden wir noch etwas entdecken, 76 Jahre
       nachdem die Rote Armee Schloss Wojenthin in Schutt und Asche gelegt hatte?
       Wir machen uns auf eine längere Wanderung gefasst.
       
       ## Einen Kindheitsort hatten wir nicht eindeutig
       
       „Hast du eine Heimat?“, frage ich Nik. Seine Antwort lautet: „nein“, ohne
       langes Nachdenken. „Heimat hat für mich etwas mit Gefühl zu tun, wo man
       sich hingezogen fühlt.“ Normalerweise zieht es Menschen an den Ort der
       Kindheit. Den gab es für uns Geschwister nicht so eindeutig. Vater war
       Offizier, wir zogen oft um. Es gab damals bei der Bundeswehr noch keine
       Rücksichtnahme auf Frau und Kinder. Nik musste sich bis zu seinem 18.
       Lebensjahr an vier verschiedenen Orten eingewöhnen. Ich bin jünger als er,
       mir ist ein Umzug erspart geblieben.
       
       Für mich ist Heimat am ehesten da, wo es vertraute Menschen gibt, wo ich
       mich aufgehoben fühle. Ich bin auch als Erwachsene oft umgezogen –
       beruflich und privat. Meistens habe ich mich schnell in der neuen Umgebung
       eingelebt, vielleicht ein Vorteil des Nomadenlebens in der Jugend. Aber
       echte Heimat waren die Orte selbst nie. Heimat muss was anderes sein, was
       Tiefes mit langen Wurzeln und seit Ewigkeiten. Etwas sehr Emotionales.
       
       Unsere Mutter sang oft das „Pommernlied“, die Hymne ihrer Heimat. „Wenn in
       stiller Stunde Träume mich umwehn, bringen frohe Kunde Geister ungesehn,
       reden von dem Lande meiner Heimat mir, hellem Meeresstrande, düsterm
       Waldrevier.“
       
       Eine wunderschöne Melodie. Vielleicht gibt’s Heimat für uns Nachkommen von
       Vertriebenen in der Musik. Sie verstärkt Gefühle, sagt man. Nik und ich
       hören das alte Lied heute mit einem Kloß im Hals.
       
       Und dann kam Willy Brandt. Im Winter 1970 besucht er als erster deutscher
       Kanzler Polen. Er geht zum Mahnmal für den Aufstand im Warschauer Ghetto
       und sinkt auf die Knie. Für meine Mutter bricht eine Welt zusammen. „Das
       ist Verrat, ein Kniefall der Schande.“
       
       Zwei Jahre später unterzeichnet die sozialliberale Regierung Brandt/Scheel
       die Ostverträge. Ab jetzt gibt es neben „den Russen“ zu Hause einen neuen
       Feind – [3][Willy Brandt „alias Herbert Frahm“] – wie meine Mutter sagt.
       Der sei in der Kriegszeit feige nach Norwegen abgehauen.
       „Vaterlandsverräter“ heißt er ab da bei uns.
       
       Auf der Landstraße 167 ist es etwa eine Stunde Fahrt nach Wojęcino.
       Henryk Gaweł schlägt vor, auf halbem Weg anzuhalten, in Strzekecino,
       Deutsch Streckenthin. In Westpommern habe es vor dem Zweiten Weltkrieg
       etwa 60 Gutshöfe gegeben, erzählt er. „Nur sehr wenige sind heute noch
       erhalten.“ Nach zwölf Kilometer biegen wir rechts ab. Eine bewaldete Straße
       führt bergauf. Nach etwa 100 Metern erhebt sich auf der rechten Seite ein
       helles, mehrstöckiges Gebäude mit einem runden Turm, Erkern und Veranden.
       Es kommt mir vor wie ein Neuschwanstein in Polen.
       
       ## Im Park, ein Klein-Versailles
       
       Der ehemalige Gutshof gehörte der Familie von Kameke. [4][Vor dem Zweiten
       Weltkrieg war er einer der größten Kartoffelzuchtbetriebe im Deutschen
       Reich.] Mehr als jeder dritte Erdapfel stammte von hier. Aus dem
       Kartoffelgut ist das „Bernstein Palast Hotel mit Spa“ geworden. „Ein
       polnischer Geschäftsmann aus Warschau hat das Anwesen gekauft, restauriert
       und seinen ursprünglichen Zustand wiederhergestellt“, berichtet Gaweł. Nik
       und ich streifen durch die hohen, etwas düsteren Räume. Textiltapeten, alte
       Teppiche, Ölgemälde und Porträts ehemaliger Gutsherren und -frauen,
       Rokokolampen, altes Porzellan, ein schwerer, tiefer Sessel mit abgewetztem
       Stoff. Ich setze mich hinein.
       
       Der Blick geht in den Park, Klein-Versailles. So haben sie damals also
       gewohnt, meine Vorfahren in Pommern. Da gab es Hauslehrer, Kinderfrau,
       einen Verwalter, den Jäger Hackbarth und das „polnische Gesinde“. Es
       arbeitete auf den Äckern, als Stallburschen und Stubenmädchen, es waren
       Polen und Deutsche. Während des Zweiten Weltkriegs kamen Zwangsarbeiter,
       sie ersetzten die Gutsarbeiter, die an die Front mussten. Von
       Zwangsarbeitern wurde zu Hause aber nie gesprochen.
       
       Meine Großeltern gehörten zu den sogenannten ostelbischen Junkern,
       Großgrundbesitzer östlich der Elbe, die bis zum November 1918 – der
       Niederlage im Ersten Weltkrieg – eine einflussreiche und oft fragwürdige
       Rolle im Deutschen Reich spielten. Der Landadel wehrte sich zum Beispiel
       gegen gesellschaftliche Reformen wie das allgemeine und freie Wahlrecht.
       
       Bis 1918 genossen die Großagrarier Steuerfreiheiten und starken politischen
       Einfluss. Das lag am Dreiklassenwahlrecht, es regelte die Stimmrechte nach
       Geld und Grundvermögen. Kein Wunder, dass die ostelbischen Junker auch in
       der Weimarer Republik noch fest an die Monarchie glaubten und die erste
       bürgerliche Regierung auf deutschem Boden verächtlich machten.
       
       Meine Großeltern waren da keine Ausnahme. Kaisertreu zu sein war Gesetz in
       Wojenthin. An „Kaisers Geburtstag“ Ende Januar spendierte Großmutter Wanda
       selbst in der späteren Bundesrepublik noch eine Flasche Sekt. Auf dem
       Schreibtisch meiner Mutter stand bis zu ihrem Tod ein Foto von Wilhelm II.
       mit zweien seiner Söhne. Sie war stolz auf dieses Erinnerungsstück, ein
       Geschenk des Hofs an die Großeltern.
       
       „Ich wollte euch zeigen, dass nicht alles zerstört wurde“, sagt Henryk
       Gaweł, unser polnischer Fremdenführer. „Wir sind froh, dass das Anwesen
       Steckenthin erhalten blieb. So bekommt man eine Vorstellung, wie es auf den
       Gütern ausgesehen hat, als die Deutschen hier lebten.“
       
       Zum Dorf Wojęcino führt keine Straße, lediglich ein einspuriger Sandweg.
       Wir fahren durch ein langes Waldstück. Außer uns ist nur ein Lieferfahrzeug
       von GLS unterwegs. Hinter dem Ortsschild stehen sieben kleine Häuser, alle
       auf der rechten Seite, links Felder. Wir parken das Auto am Ortsende, wo
       der Weg in den Wald führt. Henryk Gaweł führt uns ins Unterholz, durch
       Gebüsch, über Äste, Steine, entlang an alten Bäumen. Nach wenigen Minuten
       kommen wir auf eine kleine Anhöhe. Wir stoßen auf einen von Moos bedeckten
       Steinquader, er ragt etwa einen Meter empor, das letzte Relikt des
       ehemaligen Gutshauses, außer den zerbrochenen Backsteinen, die unter
       Blättern und Ästen liegen.
       
       Ich empfinde nichts. Hier steht nicht einmal mehr eine Ruine. Wir gehen
       einen kleinen Abhang hinunter, kommen an einen Bach, springen auf die
       andere Seite und entdecken zwischen den Bäumen eine etwa zehn Meter hohe
       Backsteinmauer, darin sitzt die Kontur eines Kirchenfensters. Hinter der
       Mauer sehen wir einen Trümmerhaufen, drumherum ragen die Stümpfe der
       Grundmauern heraus. „Das muss die ehemalige Schlosskapelle gewesen sein“,
       meint Gaweł. Auch sie liegt auf einer Anhöhe, dahinter der Teich. Heute
       stehen Bäume im Wasser, Wurzelballen umgestürzter Stämme ragen in die Luft.
       
       „Als meine Frau das gesehen hat, wurde sie ganz still“, sagt Henryk Gaweł.
       „Dass wir dieses Anwesen weder kannten noch gerettet haben, tut weh.“
       Später im Hotel spreche ich mit Nik darüber. Er sagt, diese Geste der
       Anteilnahme eines Polen habe ihn sehr berührt. Die Steine, das Holz, alles,
       was noch brauchbar war von der Ruine Wojenthin, sammelten Polen auf, um
       ihre eigenen Häuser wieder aufzubauen. Teile der zerstörten Güter in
       Westpommern seien auch für den Wiederaufbau der von der Wehrmacht völlig
       verwüsteten Hauptstadt Warschau verwendet worden, hat Henryk Gaweł erzählt.
       
       Das wusste ich nicht. Und finde es nun ganz tröstlich, dass auch Backsteine
       aus Wojenthin Warschau wieder haben aufblühen lassen und nicht alle
       verloren sind.
       
       Und es gab noch viel mehr was ich nicht wusste. 1977 komme ich nach dem
       Abitur auf die Kölner Journalistenschule. Eines unserer Fächer ist
       „Deutsche Geschichte im Dritten Reich“. Ich werde gefragt, was ein
       Konzentrationslager sei. Ich antworte: „Da lernen Menschen, konzentriert zu
       arbeiten.“ Meine Mitschüler schreien auf. Sie sind entsetzt. Ich kann, ich
       will es erst nicht glauben, was ich dann zu hören bekomme. Ich schäme mich.
       
       ## Wir Flüchtlingskinder lebten in einer Parallelwelt
       
       Bei meinen Eltern gab es keine Gespräche über Konzentrationslager. Wenn in
       den Nachrichten darüber berichtet wurde, sagte meine Mutter: „Schalt ab,
       das ist Propaganda der Alliierten, sie wollen uns Deutsche klein machen.“
       Ein früheres Hausmädchen in Wojenthin, das später in der DDR lebte,
       schickte uns „Nackt unter Wölfen“, das Buch von Bruno Apitz. Darin wird die
       Geschichte eines jüdischen Kinds erzählt, das unter barbarischen
       Bedingungen im KZ Buchenwald versteckt, beinahe entdeckt und getötet,
       später befreit wird. Es ist bis heute in 30 Sprachen übersetzt worden.
       Mutter nahm mir das Buch ab mit den Worten: „Das ist Schund, so was
       schreiben Kommunisten.“
       
       Wir lebten damals in der Eifel, in der Kleinstadt Adenau, bekannt durch die
       Rennstrecke am Nürburgring. Noch in den 70er Jahren eine sehr
       katholisch-konservative Gemeinde. Als ehemalige Flüchtlinge und
       Protestanten mit adligem Namen empfanden sich meine Eltern dort in der
       Diaspora – anders als vorher in Schleswig-Holstein, wo nach dem Krieg viel
       mehr Vertriebene lebten und eine neue Heimat fanden.
       
       Dies mag erklären, warum wir Kinder in einer Art Blase lebten. Einflüsse
       von außen gab es wenige. Mein Bruder Nik und ich wurden auf festliche
       Adelsbälle oder in Freizeiten geschickt, wo sich Kinder anderer
       Ostvertriebener trafen und altes Brauchtum pflegten. Unsere Eltern wollten,
       dass wir an alte Bande wieder anknüpften. Adlig heiraten, das war Mutters
       Plan für mich. Am besten nach der alten Tradition. Mit Myrtenkranz im Haar
       und als Mitgift eine Lehre als Hauswirtschafterin.
       
       Auch unser Gymnasium war kein Ort für den kritischen Zeitgeist, den es
       woanders schon längst gab. Als Mädchen durften wir keine Jeans tragen. Wenn
       eine Schülerin es doch tat, wurde sie vom Schuldirektor bloßgestellt. Der
       kletterte in der großen Pause auf eine Bank und hielt Ansprachen. „Schaut
       mal, wie unsere Sabine Schmidt heute angezogen ist!“, sagte er dabei. Alle
       drehten sich nach ihr um. Das reichte. Sabine trug nie wieder Jeans im
       Unterricht.
       
       Bildung ist in Deutschland Ländersache. Die Nazizeit behandelten die
       Gymnasien in den einzelnen Bundesländern damals höchst unterschiedlich.
       Während in Berlin und Köln bereits Anfang der 60er Jahre Filme über
       Konzentrationslager mit den Abiturklassen besprochen wurden, gab es
       Vergleichbares bei uns in der Kleinstadt nicht. Im Nachhinein erkläre ich
       mir diesen blinden Fleck, dass meine Deutsch- und Geschichtslehrer das
       Thema verdrängten – wie unsere Mutter auch.
       
       Einige Lehrer hatten den Zweiten Weltkrieg als Invaliden überlebt, jüngere
       wagten kaum aufzumucken. Es herrschte in den 70er Jahren noch immer ein
       autoritäres Klima an unserem Gymnasium. Zu Hause gab es nur ein Thema:
       Flucht und Vertreibung. Und die große Angst vor einem Angriff der Roten
       Armee auf Westdeutschland, sie beherrschte unser ganzes Fühlen und Denken.
       Wir Flüchtlingskinder lebten in einer Parallelwelt.
       
       Dabei hatte es Andeutungen gegeben: In der Klasse meiner Mutter in Kolberg
       gab es eine jüdische Mitschülerin, Harriet. „Die wurde eines Tages
       abgeholt“, erzählte sie. „Und dann?“, fragte ich. „Das wussten wir nicht.“
       „Ja, habt ihr denn nicht nachgefragt?“ Sie sagte: „Ach Kindchen, das waren
       doch andere Zeiten.“
       
       Mutter wollte nicht darüber sprechen. Und ich hatte das Gefühl, ich sollte
       sie nicht zusätzlich belasten. Einmal erwähnte sie einen französischen
       Koch, dem man bei der Zubereitung der Speisen in Wojenthin besser nicht
       zuschaute. Ein Zwangsarbeiter. Als ich ihr das sagte, schüttelte sie mit
       dem Kopf. „Es ging ihm gut bei uns, Mutter hat alle versorgt, keiner musste
       leiden.“
       
       Wahrscheinlich hatte sie Recht. Im Vergleich zu den Hunderttausenden
       Zwangsarbeitern, die in der deutschen Kriegsindustrie versklavt wurden,
       ging es den zur Arbeit gezwungenen Kriegsgefangenen aus Frankreich und
       Polen auf den Gütern bestimmt besser. Nur: Das Festhalten an der alten
       Heimat – ohne Einsicht, ohne auch an all die Menschen zu denken, die durch
       Hitlers Krieg und seine Folgen so viel Elend erfahren hatten, das war für
       Nik und mich später nicht zu verstehen.
       
       Und noch weniger die Geschichte von Onkel Eduard, liebenswert und gebildet,
       ein Jude. Er kam uns öfter in Kiel besuchen. Den Holocaust hatte er im Exil
       überlebt. „Packt alles weg, wenn Onkel Eduard kommt, Juden stehlen“, warnte
       uns Mutter. Ich habe schon als Kind nicht verstanden, was Glaube mit
       Diebstahl zu tun haben sollte – von den christlichen Kreuzzügen wusste ich
       damals auch noch nichts.
       
       Als ich später an der Journalistenschule über die Judenverfolgung
       aufgeklärt wurde, lief es mir eiskalt über den Rücken. „Menschen Hass
       lehren gegen Minderheiten, das ist Ziel von Propaganda“, meint Nik, „Du
       siehst ja, dass das noch heute in autoritären Regimen funktioniert. Und
       nicht nur da.“
       
       Mutter ist 2013 gestorben, unter einem großen Bild von Wojenthin, das über
       ihrem Bett hing. Sie war sehr beliebt in der Nachbarschaft in Adenau. Eine
       Frau mit viel Herz, Empathie und stets einem offenen Ohr für Menschen,
       denen es schlechter ging als ihr. 2015 – als Hunderttausende Flüchtlinge
       nach Deutschland strömten – hätte sie sich engagiert, davon bin ich
       überzeugt.
       
       Auch deshalb bleibt für mich bis heute unerklärlich, warum unsere
       liebevolle Mutter kein Mitgefühl zeigte für die vielen anderen Opfer der
       Nazidiktatur. Während meiner Ausbildung zur Journalistin habe ich sie immer
       wieder mit der Judenvernichtung konfrontiert.
       
       ## Wir werden nicht wiederkommen
       
       Sie ließ sich nicht darauf ein, sie hielt mir die Verbrechen der Roten
       Armee entgegen, und wenn es richtig hitzig wurde, begann sie zu weinen. „Du
       hast kein Recht über diese Zeit zu urteilen“, sagte Mutter dann
       schluchzend, „wir haben so viel durchgemacht. Wenn du damals gelebt
       hättest, wärst du auch begeistert bei der Hitlerjugend mitmarschiert.“
       
       [5][Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat kürzlich die unvorstellbare
       Zahl in Erinnerung gerufen: 27 Millionen sowjetische Bürger verloren durch
       Nazideutschland ihr Leben]. Wie viele Familien wurden in Russland, Polen,
       in der Ukraine und der Tschechoslowakei aus ihrer Heimat vertrieben, ihrer
       Identität beraubt und von Deutschen versklavt und ermordet? Wie viele
       Kinder dort tragen noch heute an den materiellen und seelischen Lasten des
       Zweiten Weltkriegs? Und: Wie konnte das Gift des Antisemitismus in der
       Elterngeneration überleben – und an die Kinder vererbt werden, trotz aller
       Aufklärung, Gedenkstätten, den Zeugnisse von Überlebenden, trotz TV-Serien
       wie „Holocaust“ und „Das Tagebuch der Anne Frank“?
       
       Nik und ich gehen schweigend zum Auto zurück. Wojenthin war für uns schon
       länger kein Ort der Sehnsucht mehr, des Traumschlosses, der Idylle einer
       unbeschwerten, reichen Jugend unserer Mutter. Jetzt haben wir es mit
       eigenen Augen gesehen: Wojenthin ist untergegangen, Wojęcino gehört zu
       Polen, wir werden nicht wiederkommen.
       
       Was von dieser Reise bleibt? Wir sind froh, dass ein Pole uns begleitete
       und zu verstehen gab, dass Vertreibung und ein zerstörtes Elternhaus auch
       für unsere deutsche Mutter traumatische Folgen haben musste. Ich lasse mich
       seit den Erfahrungen mit Mutter ungern für eine Sache einnehmen, bleibe
       lieber Beobachterin, Zaungast. Und ich nehme mich vor Fanatismus in Acht.
       „Familie“ und „Heimat“ haben für mich keinen unverfänglichen Klang mehr.
       
       Was mache ich jetzt mit dem Backstein im Kofferraum? „Hast du ihn
       mitgenommen?“, fragt mein Bruder verwundert. „Nein, Henryk Gaweł hat ihn
       mir ins Auto gelegt.“ Ich glaube, der Stein bleibt erst mal dort liegen.
       
       24 Jul 2021
       
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   DIR [2] https://www.hdg.de/lemo/kapitel/geteiltes-deutschland-modernisierung/neue-ostpolitik/moskau-warschau-prag.html
   DIR [3] /Schmutzkampagnen-im-Wahlkampf/!5779612
   DIR [4] https://de.wikipedia.org/wiki/Kartz_von_Kameke-Streckenthin
   DIR [5] /Deutscher-Ueberfall-auf-die-Sowjetunion/!5777262
       
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