URI: 
       # taz.de -- Johanna Adorján über Roman „Ciao“: „Die größte Umwälzung seit 1968“
       
       > In Johanna Adorjáns neuem Roman „Ciao“ geht es auch um den Niedergang des
       > Journalismus. Der Berufsstand habe viel an Attraktivität verloren, sagt
       > die Autorin.
       
   IMG Bild: Alltag mit dem Smartphone: Ohne, glauben wir, geht es nicht
       
       taz: Frau Adorján, in Ihrem neuen Roman „Ciao“ geht es auch um den
       Niedergang des Journalismus. Unser Berufsstand hat ganz schön an
       Attraktivität verloren.
       
       Johanna Adorján: Das stimmt. Als ich angefangen habe als Journalistin zu
       arbeiten, da gab es das Internet sozusagen noch nicht. Heute wird man
       öffentlich kommentiert in allem, was man macht. Ich weiß nicht, ob ich noch
       mal Journalistin werden wollen würde. Wäre jetzt gar nicht mehr auf meiner
       Liste, lieber gleich Anwalt.
       
       Das geht wohl vielen so. 
       
       Wir haben einfach in einer anderen Zeit angefangen. Früher hat der
       Freundeskreis Zeitung gelesen und man wurde darauf angesprochen, wenn man
       was geschrieben hatte. Heute habe ich nicht mehr das Gefühl, dass noch so
       viele Menschen regelmäßig Zeitung lesen, jedenfalls nicht in meinem Umfeld.
       
       Ist das der Grund für Ihren Instagram Account? Das Gesehen und Gelesen
       werden wollen. 
       
       Ich finde nicht, dass man Instagram romantisieren sollte. Das gehört zu
       Facebook. Es ist ein Tool, Influencer nutzen es. Ich habe mich dort Anfang
       2019 angemeldet, um Werbung für mein damals neues Buch zu machen. Es wird
       ja heutzutage neoliberal von einem erwartet, dass man seine eigene PR
       macht. Das ist nichts, was ich toll finde. Der Antrieb war meine damalige
       Literaturagentin, die mich fragte: „Und, wie sieht es mit Social Media
       aus?“ Ich hab dann einfach versucht, es möglichst so zu machen, dass ich
       mich dafür nicht schämen muss.
       
       Sie machen auf Instagram nicht nur Werbung, sondern haben sich unter
       anderem eine Kultserie ausgedacht, in der sie Fotos teilen, in die unsere
       heutige Sehgewohnheit ein Handy hineindichtet. 
       
       Ich hab mal eine Zeit nicht fürs Feuilleton geschrieben und konnte dann
       nirgends so kleine, kurze Sachen unterbringen. Jetzt schreibe ich wieder
       fürs Feuilleton und daher auch viel weniger für Instagram. Ich habe auch
       eine neue Kolumne in der SZ, in der ich über alte Bücher schreiben kann.
       
       „Nichts Neues“ heißt sie, erscheint dienstags. Ihre Idee?
       
       Ja, meine Idee.
       
       Ihr neuer Roman „Ciao“ ist eine Gesellschaftssatire. Gab es einen Auslöser?
       
       Mir fiel irgendwann auf, dass viele Männer heute verunsichert sind. Und ich
       meine jetzt keine bösen Sexisten oder Vergewaltiger, sondern ganz nette,
       mittelalte Männer, die Feminismus gut finden, aber die plötzlich nicht mehr
       wissen, ob sie einem eigentlich noch ein Kompliment machen dürfen oder ob
       das neuerdings verpönt ist. Sie haben gemerkt, dass sich Dinge verändert
       haben und sie Sachen falsch machen können, aber sie wissen gar nicht ganz
       genau, was. Darüber nachzudenken, fand ich interessant.
       
       Der heutige Zeitgeist bildet den Bodensatz des Romans, identitätspolitische
       Diskurse, Feminismus, #MeToo. Der Roman wirft einen ironisch gelassenen
       Blick auf die Gegenwart, wie genervt sind Sie wirklich von unserer
       Debattenkultur? 
       
       Ich glaube, wir leben gerade in einer unglaublich wilden, spannenden,
       interessanten Zeit. Wahrscheinlich erleben wir die größte gesellschaftliche
       Umwälzung seit 1968. Es ist noch nicht klar, wie es ausgehen wird und für
       wen es gut ausgehen wird. Es scheint aber so, als ob die Zeit, in der wir
       groß geworden sind, verschwindet. Leider werden die Debatten oft sehr
       schwarz-weiß geführt. Es gibt überhaupt kein Dazwischen mehr, keine Geduld
       und Nachsicht. Der Tonfall ist immer sofort extrem empörungsbereit. Ich
       habe versucht, mehr Heiterkeit und Leichtigkeit reinzubringen.
       
       Im Mittelpunkt des Romans steht der Feuilletonist Hans Benedek, ein
       mittelalter weißer Mann, der aus der Zeit gefallen scheint. 
       
       Er ist jemand, der eigentlich ganz sympathisch ist. Ein liebevoller Vater,
       ein bisher sehr erfolgreicher Mann, der genauso ist, wie er immer war, aber
       die Welt ist nicht mehr dieselbe. Diese Differenz versucht mein Buch
       auszuloten.
       
       Einmal seufzt Hans Benedek: „Meine Güte, was ist los mit den Menschen.“ Ist
       das der Kernsatz des Romans? 
       
       Vielleicht kann man das sagen. Ja, ich finde das schön.
       
       Noch einmal zum Digitalen. Über Hans heißt es im Roman, er spüre das
       Verlangen, aufs Handy zu gucken, geradezu körperlich. Geht Ihnen das auch
       so? 
       
       Ich habe das Handy schon auch meistens in der Hand auf der Straße. Ich
       gucke nicht drauf, aber ich habe das Handy einfach in der Hand. Ich träume
       davon, zum Nokia zurückzukehren, ohne Internet, nur sms. Das Problem ist,
       dass ich Carsharing dann nicht machen könnte und auch kein Navigationsgerät
       hätte. Ich finde es auch praktisch, immer einen Fotoapparat dabei zu haben.
       Ich hasse mein iPhone und habe es immer dabei.
       
       Mit was verbringen Sie die meiste Handyzeit? 
       
       Ich verbringe wahrscheinlich ein bisschen zu viel Zeit auf Instagram. Aber
       meine Großmutter hat immer Patiencen gelegt.
       
       Ähnlich zeitvertreibend. 
       
       Ja, das Gehirn ist weg, ich schau dafür kein Fernsehen.
       
       Sie haben keinen Fernseher? 
       
       Doch, aber ich schaue nie. Kann eigentlich weg.
       
       „Ciao“ ist Ihr zweiter Roman und Ihr fünftes Buch. Dazu kommen ein
       Theaterstück und Teile eines Drehbuchs. Extrem unterschiedliche Texte. Wird
       Ihnen schnell langweilig?
       
       Ja! (lacht) Mir ist sehr schnell langweilig!
       
       Deswegen auch der häufige Verlagswechsel? „Ciao“ erscheint bei Kiepenheuer
       & Witsch. 
       
       Da wollte ich immer schon hin. Die meisten Leute, die ich kenne, die Bücher
       geschrieben haben, sind dort. Die Verlagswechsel lagen nicht an mir. Ich
       habe es bisher leider nicht kennengelernt, dass ein Verlag einem die Treue
       hält.
       
       Warum heißt der Roman eigentlich „Ciao“? 
       
       Weil die besten Zeiten von Hans Benedek vorbei sind. Es ist das ihm
       freundlich nachgerufene „Ciao“.
       
       Eines Ihrer Spezialgebiete als Journalistin sind Interviews. Vor Jahren
       haben Sie angekündigt, dass sie keine mehr mit Schauspieler:innen
       führen wollten. 
       
       Ich wusste einfach nicht mehr, was man Schauspieler fragen soll. Nicht
       jeder Schauspieler kann gut über seine Herangehensweise sprechen, das ist
       oft intuitiv. Irgendwann habe ich das dann aber wieder angefangen.
       
       Was mögen Sie an Interviews? 
       
       Dass ich nicht vorne stehe. Ich stelle zwar die Fragen, aber es geht nicht
       um mich.
       
       Sind Sie noch nervös dabei? 
       
       Ich bin davor meistens wahnsinnig aufgeregt, weil ich nicht weiß, ob die
       Interviewten Lust haben auf meine Fragen. Manchmal denke ich auch, wie
       toll, dass ich den oder die treffen darf. Das ist ein unglaublicher Luxus,
       zwar nur eine Stunde, aber immerhin.
       
       Sie haben sich jüngst über die Qualität von Literatursendungen im Fernsehen
       beklagt, vor allem über „Druckfrisch“ von Denis Scheck. Dessen ungeachtet,
       ob Sie eingeladen würden oder ob Sie hingehen würden. Was wäre die ideale
       Kulisse für ein Interview mit Ihnen und Ihrem Buch „Ciao“? 
       
       Wie wär’s mit einem Strandcafé in Griechenland?
       
       Das „Ciao“ heißt? 
       
       Nee, einfach nur, weil ich Lust habe, nach Griechenland zu fahren. Ich
       würde gern im Sitzen reden und nicht durchs Hochmoor stapfen.
       
       Das ließe sich sicher machen. „All things must change or remain the same.“
       Was soll uns das Motto Ihres Romans sagen? 
       
       Es ist ja in Wahrheit ein Quatschmotto. Es sagt absolut gar nichts aus.
       Aber erstens stimmt es trotzdem, und zweitens klingt es gut. Und im Roman
       geht es ja um Veränderung und die Schwierigkeiten, die man damit haben
       kann. Ich finde vorangestellte Mottos oft faul, weil man sich damit eine
       Bedeutung aufpappt, die jemand anderes sich erarbeitet hat.
       
       Ich würde gern mit einer Frage enden, die Interviewkönig Moritz von Uslar
       für eine der besten hält: Worin besteht der Sinn des Lebens? 
       
       Oh, Gott. Die ist echt gut, die Frage. (denkt nach) Sich von den
       Erwartungen anderer freimachen und sich selbst gemäß leben, und dabei
       anderen möglichst nicht auf die Nerven gehen. Ungefähr so.
       
       1 Aug 2021
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Shirin Sojitrawalla
       
       ## TAGS
       
   DIR Journalismus
   DIR Roman
   DIR Literatur
   DIR Öffentlich-Rechtlicher Rundfunk
   DIR Instagram
   DIR Schwerpunkt Klimawandel
   DIR Schwerpunkt #metoo
   DIR Schwerpunkt Rassismus
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Die These: Bald schon wird Kassandra geglaubt
       
       Denis Scheck findet Christa Wolfs „Kassandra“ langweilig. Wer das
       langweilig findet, findet auch Klimawandel und Verkehrskollaps langweilig.
       
   DIR US-Comedian Notaro über Cancel Culture: „Twitter interessiert mich nicht“
       
       Im Netflix-Actionfilm „Army of the Dead“ ersetzt Tig Notaro einen anderen
       Schauspieler. Ein Gespräch über Cancel Culture und Greenscreen.
       
   DIR Literatur und Identität: Schreiben braucht Solidarität
       
       Nicht nur die Debatte um die Übersetzung von Amanda Gormans Lyrik verirrt
       sich in der Falle des Essenzialismus. Kulturelle Identitäten sind komplex.
       
   DIR Buchdebüt von Johanna Adorján: Gemeinsamer Selbstmord aus Liebe
       
       In dem Essay "Eine exklusive Liebe" erzählt die Journalistin Johanna
       Adorján die verwickelte Lebensgeschichte ihrer Großeltern. Sie nahmen sich
       gemeinsam das Leben.