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       # taz.de -- Politische Krise in Tunesien: Jubelschreie und fliegende Steine
       
       > Nach Protesten entmachtet Tunesiens Präsident Saied den Regierungschef.
       > Viele im Land feiern das, andere sprechen von einem Staatsstreich.
       
   IMG Bild: Hoffnung auf Veränderung: Feiernde am 25. Juli in Tunis
       
       Tunis taz | Was sich am Sonntag innerhalb weniger Stunden auf der
       Flaniermeile der tunesischen Hauptstadt abspielte, war sogar für die
       hartgesottenen Mitarbeiter der zahlreichen Cafés zu viel, die in der
       Innenstadt von Tunis schon so einiges gesehen haben. Verhaftungen während
       der Diktatur Ben-Alis, die Revolution von 2011 und Hunderte von
       Demonstrationen in den Folgejahren. Immer wieder gehen vor allem
       Menschenrechtsaktivisten gegen Korruption, Vetternwirtschaft, Rassismus
       oder die prekäre soziale Lage im Land auf die Straße.
       
       So auch am Sonntag, dem „Tag der Republik“, als Hunderte Jugendliche gegen
       die Untätigkeit der Regierung angesichts der sich zuspitzenden
       Coronasituation und der katastrophalen Lage in den Krankenhäusern des
       Landes protestierten. Wie in den Monaten zuvor begleiteten mit Helmen und
       Schlagstöcken ausgerüstete Polizisten die Menge. Einzelne Organisatoren
       wurden verhaftet.
       
       Trotz der coronabedingten Ausgangssperre ließen die Sicherheitskräfte die
       wütende Menge gewähren. Erst vor dem Parlament trieben Tränengaswolken sie
       auseinander.
       
       ## Freude über Veränderung
       
       In anderen Städten Tunesiens war die Lage da bereits eskaliert: Arbeitslose
       und Studierende hatten die Parteibüros der moderat islamistischen
       Regierungspartei Ennahda angezündet. In der Hafenstadt Sfax brannte ein
       Polizeipanzer aus. „Wir sind die vierte Welle“, stand auf den Plakaten, und
       auch: „Degage!“, also: „Geht!“
       
       Als sich die Lage am Abend langsam beruhigte, trat Tunesiens Präsident Kais
       Saied vor die Kameras. Im Beisein mehrerer Polizeichefs und Armeegeneräle
       verkündete er in staatstragendem Tonfall die sofortige Absetzung von
       Regierungschef Hichem Mechichi sowie eine vierwöchige Schließung des
       Parlaments.
       
       Er selbst werde die Regierungsgeschäfte mithilfe eines neuen
       Regierungschefs übernehmen. Zudem verkündete er, nicht nur die Immunität
       der Abgeordneten aufzuheben, sondern auch von einem Staatsanwalt deren
       Straftaten untersuchen zu lassen.
       
       Seinen Staatsstreich verkündete der Professor für Staatsrecht mit Artikel
       80 der Verfassung von 2014: Gefahr für die nationale Sicherheit. Sowohl die
       rechtlich wackelige Begründung für diesen historischen Einschnitt in
       Tunesiens nachrevolutionärem Chaos als auch die Ausgangssperre waren vielen
       Bürgern egal: Jubelschreie und Hupkonzerte klangen durch die Straßen.
       
       ## Ein ägyptisches Szenario?
       
       Gegen 22 Uhr marschierten Tausende über die Avenue Habib Bourguiba in
       Tunis. Wie vor zehn Jahren standen vielen die Tränen in den Augen. Für
       einige Stunden kehrte eine Stimmung ein, die an Februar 2011 erinnerte, als
       die Tunesier ihren Langzeitherrscher Ben Ali vertrieben.
       
       Der Jurastudent Mohammed Cherif sang mit seinen Freunden die Nationalhymne,
       während im Schritttempo vorbeifahrende Armeejeeps von der Menge euphorisch
       begrüßt wurden. Die Polizisten, die noch am Nachmittag mit Gewalt gegen
       eine kleinere Gruppe von Demonstrierenden vorgegangen waren, hielten sich
       bedeckt am Straßenrand. „Es ist ein Staatsstreich, aber das ist okay,“,
       schrie der 23-jährige Cherif gegen die johlende Menge an, „alles ist besser
       als die aktuelle Regierung und die korrupte Elite.“
       
       Doch auch mahnende Stimmen waren in dem Jubel zu hören: „Kais Saied ist
       nicht weniger konservativ als viele Islamisten, ein ägyptisches Szenario
       ist nicht auszuschließen“, sagte ein Vertreter der LGBT-Szene, „aber alles
       ist besser als der Status quo.“
       
       Am Montagmorgen fuhren Armeejeeps an neuralgischen Punkten der Hauptstadt
       auf. Im Stadtteil Bardo versuchten mehrere Parlamentsabgeordnete, in ihre
       Büros zu gelangen, doch die Armee verhinderte den Zugang. Vor dem Parlament
       kam es im Laufe des Tages zu Straßenkämpfen. Es flogen Flaschen und Steine.
       
       ## Gefahr für die Demokratie
       
       Doch die Lage könnte weiter eskalieren. Rached al-Ghannouchi, Chef der
       bislang regierenden Partei Ennahda, forderte seine Anhänger noch am
       Sonntagabend auf, gegen den „Staatsstreich des Präsidenten“ zu protestieren
       und das Parlament zu schützen.
       
       Bereits in der Nacht auf Montag waren Steine geflogen zwischen den
       Anhängern von Kais Saied und denen der religiösen Parteien Karama und
       Ennahda. Zwischen den Gruppen standen schwerbewaffnete Armeerekruten und
       Antiterroreinheiten der Polizei, die die Menge bis früh in den Morgen mit
       Tränengas angriff.
       
       Menschenrechtsaktivisten diskutieren nun, ob Kais Saied wie behauptet das
       Recht habe, Parlament und Regierung zu entmachten. Der Analyst Selim Kharat
       ist skeptisch, dass der von Saied aktivierte Paragraf 80 der Verfassung
       gilt. Dieser gibt dem Präsidenten im Falle eines drohenden Zusammenbruchs
       der öffentlichen Ordnung das Recht, die Macht an sich zu reißen.
       
       Nun rächt sich, wovor Kharat und andere immer wieder gewarnt hatten. Die
       heillos zerstrittenen politischen Parteien hatten sich in acht Jahren nicht
       auf ein von der Verfassung vorgeschriebenes Verfassungsgericht einigen
       können. „Nur Verfassungsrichter könnten die gefährliche Situation
       entschärfen“, sagt Kharat.
       
       26 Jul 2021
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Mirco Keilberth
       
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