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       # taz.de -- Intergeschlechtlichkeit und Schule: „Inter* wird ausgeklammert“
       
       > Vielen Lehrkräften fehlt Wissen, um souverän mit intergeschlechtlichen
       > Kindern umzugehen, sagt Expertin Ursula Rosen. Das müsse sich ändern.
       
   IMG Bild: Keegan, 9, identfiziert sich als „genderkreativ“ – und springt Trampolin
       
       taz: Frau Rosen, wenn es nach der UN-Kinderrechtskonvention geht, hat jedes
       Kind das Recht, ohne Diskriminierung aufzuwachsen – auch Inter*Kinder. Wie
       weit sind wir in Deutschland davon entfernt? 
       
       Ursula Rosen: Sehr weit. Die Ausgrenzung beginnt schon im Krankenhaus.
       „Herzlichen Glückwunsch, Sie haben ein Inter*Kind!“ könnte man nach der
       Geburt sagen. Stattdessen wird der Eindruck vermittelt, dass es ein großes
       medizinisches Problem gibt, auch wenn das Kind – wie die meisten
       Inter*Kinder – kerngesund ist. Sie haben ja lediglich eine Variante der
       Geschlechtsentwicklung. Im Kindergarten geht es weiter. Und in der Schule
       ist Ausgrenzung eigentlich überall – wo von Mädchen und Jungen die Rede
       ist, wo von „lieben Schülerinnen und Schülern“ gesprochen wird, wo nicht
       bedacht wird, dass Inter*Kinder eine andere Körperlichkeit haben als
       andere Kinder.
       
       Wie gut sind Lehrer*innen auf intergeschlechtliche Schüler*innen
       vorbereitet? 
       
       Für eine souveräne Reaktion, die den Kindern gerecht wird, fehlt vielen
       Lehrkräften schlicht das Wissen. Eine Drittklässlerin mit Hoden im
       Bauchraum hat mir neulich erzählt, wie ihre Lehrerin gesagt habe, dass
       Mädchen Eierstöcke und eine Vagina haben und Jungs einen Penis und Hoden.
       „Ich habe aber auch Hoden“, entgegnet sie, und die anderen Kinder lachen.
       „Das stimmt aber, meine Mama hat mir das erklärt“, sagt das Inter*Kind. „Da
       fragst du noch mal deine Mama, das hast du bestimmt falsch verstanden“,
       antwortet die Lehrerin. „Warum weiß die das nicht, die ist doch Lehrerin?“,
       hat das Kind mich dann gefragt.
       
       Und warum weiß die Lehrerin das nicht? 
       
       Bislang ist Intergeschlechtlichkeit im Lehramtsstudium meist kein Thema.
       Als Erstes sollte es im Curriculum von Biolehrer*innen vorkommen. Aber
       in der Sexualkunde wird nur erklärt, wie weibliche und männliche Körper
       aussehen, Inter* wird ausgeklammert. In den Lehrplänen für
       Gesellschaftswissenschaften sucht man ebenfalls vergeblich.
       
       Was ist mit dem pädagogischen Teil der Ausbildung? 
       
       In den Psychologiemodulen der Lehrer*innenausbildung, wo es um
       Geschlechtsidentität geht, müsste Intergeschlechtlichkeit vorkommen, aber
       das ist meist nicht der Fall. Das muss sich ändern. Gleichzeitig erlebe ich
       bei Fortbildungen für Grundschullehrer*innen eine große Bereitschaft,
       sich Wissen über das Thema anzueignen. Weil sie sich darüber bewusst sind,
       dass die Kinder ihnen anvertraut sind, und zwar in ihrer Gesamtheit. Anders
       ist das bei Lehrkräften an weiterführenden Schulen, die fühlen sich häufig
       nur für die Stoffvermittlung zuständig.
       
       Machen wir es ganz praktisch: Auf dem Anmeldebogen der Grundschule kreuzen
       Eltern als Geschlechtseintrag für ihr Kind [1][„divers“] an. Was sollte die
       Lehrkraft dann tun? 
       
       Zuerst mal sollte sie wissen, was das bedeutet oder es in Erfahrung
       bringen, wenn sie es nicht weiß. Und dann sollte sie das Gespräch mit den
       Eltern suchen. Denn es stellen sich viele Fragen: Gibt es in der Schule
       eine All-Gender-Toilette? Wo soll das Kind sich für den Sportunterricht
       umziehen? Soll es auf der Klassenfahrt ins Jungen- oder ins Mädchenzimmer?
       Wenn das Kind körperliche Auffälligkeiten hat, also zum Beispiel eine große
       Klitoris, fällt das den anderen Kindern spätestens auf, wenn nach dem
       Sportunterricht alle ohne Unterhose duschen sollen. Als Lehrerin muss ich
       dann wissen: Was will das Kind? Wünscht das Kind, dass ich in der ersten
       Stunde etwas zu Intergeschlechtlichkeit sage? Manche Kinder wollen genau
       das.
       
       Und wenn die Kinder nicht möchten, dass ihre Intergeschlechtlichkeit zum
       Thema gemacht wird – wie können Lehrer*innen dann sensibel mit
       möglicherweise ausgrenzenden Situationen umgehen? 
       
       Die Lehrkräfte müssen immer deutlich machen, dass alle Kinder gleichwertig
       sind. Bei Fragen, die das Geschlecht betreffen, sollte man das Kind fragen,
       wie es eingeordnet werden will. Also zum Beispiel auf Klassenfahrten: Auf
       welches Zimmer möchtest du denn? Wo fühlst du dich wohl? Bei trans Kindern
       ist man da weiter – da ist es gerade im Grundschulbereich gar kein Problem,
       dass etwa trans Mädchen, die ja einen männlich gelesenen Körper haben, mit
       auf ein Mädchenzimmer gehen.
       
       In der Diskriminierungsprävention werden die Situationen von Inter*- und
       trans Kindern häufig zusammen abgehandelt. Wie ist das für Inter*Kinder? 
       
       Die Schwierigkeit daran ist, dass Inter*Kinder in der Regel eine andere
       Problematik haben als trans Kinder. Trans Kinder haben einen Körper, der
       eindeutig aussieht, aber ihre Psyche sagt das Gegenteil. Inter*Kinder
       haben einen Körper, der in den binären gesellschaftlichen Normen nicht
       vorkommt. Viele fühlen sich deshalb einsam, so, als sollte es sie gar nicht
       geben. Inter*Kinder müssen deshalb die Information bekommen, dass ihr
       Körper völlig in Ordnung ist, wie er ist. Das ist ein weiterer Unterschied
       zu trans*: Während da Operationen erst vorgenommen werden sollen, [2][wenn
       sie erwachsen sind], haben Ärzt*innen bei Inter*Kindern über
       Jahrzehnte schon sehr früh zu sogenannten geschlechtsangleichenden
       Operationen geraten.
       
       Bis in die 2000er waren diese kosmetischen Operationen an Babys und
       Kleinkindern üblich. Die hat das im März vom Bundestag verabschiedete
       Gesetz zum Schutz von Kindern mit Varianten der Geschlechtsentwicklung nun
       verboten. Ein Meilenstein für intergeschlechtliches Leben in Deutschland? 
       
       Auf jeden Fall. Gut ist, dass es überhaupt ein Gesetz gibt, das die
       Einwilligung der Betroffenen erforderlich macht. Schwierig finden wir als
       Verein, dass vor Operationen eine Peerberatung, also eine Beratung durch
       andere Betroffene, nicht verpflichtend ist. Das wäre aber wichtig, um den
       Eltern ihre Ängste zu nehmen. Denn die Operationen lassen die Familien ja
       vor allem zur „Mobbingprävention“ durchführen. Schwierig finden wir auch,
       dass die Einwilligungsfähigkeit des Kindes nicht definiert wurde und es
       kein Zentralregister über Behandlungen intergeschlechtlicher Kinder gibt.
       Deswegen fehlen uns belastbare Zahlen. Außerdem greift das Gesetz nur, wenn
       eine Variante der Geschlechtsentwicklung „diagnostiziert“ wurde. Und, ganz
       wichtig: Wir brauchen mehr Mittel für spezialisierte Beratungsstellen und
       die Weiterbildung der vorhandenen Beratungsstellen. Es gibt viel zu wenig
       spezialisierte Berater*innen. So lässt das Gesetz die Familien mit
       ihren Sorgen allein.
       
       29 Jul 2021
       
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