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       # taz.de -- Schwedens Umgang mit Waldgebieten: Land der übernutzten Wälder
       
       > Schweden will der erste fossilfreie Wohlfahrtsstaat werden. Nur: Die
       > riesigen Waldgebiete werden jetzt für Biotreibstoffe gerodet.
       
   IMG Bild: Für Biotreibstoff gefällt? Ein Holzvollernter in einem schwedischen Wald
       
       Stockholm taz | Für zwei ihrer freitäglichen Schulstreiks meldete sich
       Greta Thunberg zuletzt aus den Wäldern Schwedisch-Lapplands. Fotos auf
       ihrem Twitter-Account zeigen sie mit ihrem „Skolstrejk för Klimatet“-Schild
       auf einem Kahlschlag und zusammen mit anderen DemonstrantInnen. Sie
       protestieren gegen die Waldpolitik des schwedischen Staats. Schweden
       „eliminiert nicht nur Wälder und Kohlenstoffsenken“ twitterte Thunberg.
       „Sondern auch Geschichte, Zukunft und Traditionen der Samen.“
       
       [1][Vor allem das staatliche Forstunternehmen Sveaskog, der größte
       Waldeigentümer des Landes], holzt derzeit in Nordschweden auch wertvolle
       Altwälder ab. Seit dem Frühjahr gibt es anhaltende Proteste dagegen. Die
       AktivistInnen versuchen, die Rodungen zu stoppen, indem sie Zufahrten
       blockieren, Plattformen in den Baumkronen bauen und sich an Forstmaschinen
       festketten.
       
       Abgesehen von den Folgen der Entwaldung für Klima und Umwelt geht es ihnen
       auch darum, die [2][Existenzgrundlage der samischen Urbevölkerung] zu
       retten. Von einem „Tiefstpunkt“ für Schwedens Waldpolitik spricht Dima
       Litvinov von Greenpeace: „Schweden hat nur noch sehr wenig alten,
       wirklichen Wald und die Wälder, die Sveaskog fällen will, gehören zu den
       letzten Naturwäldern Schwedens.“
       
       Die Regierung in Stockholm hat sich ehrgeizige Klimaziele gesetzt: Schweden
       soll „weltweit erster fossilfreier Wohlfahrtsstaat“ werden und seinen
       Klimagasausstoß bis spätestens 2045 auf null reduzieren. Wie passen die
       verstärkten Waldrodungen dazu? Die Kahlschläge, die „nicht nur für die
       Biodiversität katastrophal sind, sondern zu einer Zeit, in der wir jede
       mögliche Kohlenstoffsenke maximieren müssen, auch für das Klima“, wie
       Thunberg der rot-grünen Koalition zu Recht vorwirft.
       
       Mit einem Rechentrick: Schweden produziert derzeit etwa so viel CO2 mit dem
       Verbrennen von Biomasse wie mit dem Einsatz fossiler Brennstoffe. Um die
       Klimaziele zu erreichen, soll der Anteil von Biotreibstoffen, die aus Holz
       gewonnen werden, künftig weiter kräftig anwachsen. Denn in der offiziellen
       Statistik wird deren Klimagasausstoß mit null ausgewiesen: Das CO2 werde ja
       von neu wachsenden Bäumen wieder absorbiert. Die Verbrennung sei also
       „klimaneutral“.
       
       ## Mehr Holzverbrennung ist schlecht fürs Klima
       
       Das gilt allerdings allenfalls für einen Zeitraum von einigen Jahrzehnten –
       wenn das Klima mitspielt und die neu gepflanzten Bäume nicht unterwegs
       vertrocknen oder beim nächsten Waldbrand abfackeln. Dummerweise hält sich
       das CO2 aus aktueller Biomasseverbrennung nämlich nicht an die Theorie von
       der Klimaneutralität, sondern heizt die Erdatmosphäre zunächst einmal
       weiter auf. Mehr Holz aus den Wäldern zu holen und damit deren Funktion als
       Klimagassenken zu vermindern, sei deshalb genau der falsche Weg, die akute
       Klimakrise zu lösen, sagt Bengt-Gunnar Jonsson, Biologieprofessor an der
       Mittelschwedischen Universität: Im Gegenteil müsse mehr Wald stehen
       bleiben.
       
       Doch die kurzfristigen ökonomischen Interessen von Forstwirtschaft und
       holzverarbeitender Industrie wiegen in Schweden immer noch schwer. Deshalb
       verbittet sich Schweden auch jede Einmischung Brüssels in die eigene
       Waldpolitik. Die Mitte Juli präsentierte Waldstrategie der EU-Kommission
       lehnte Stockholm umgehend ab.
       
       Herman Sundqvist, der Generaldirektor der staatlichen Forstbehörde
       Skogsstyrelsen, warnte vor „extrem großen Konsequenzen für die
       Forstwirtschaft“, wenn man beispielsweise auf Kahlschläge und den Einsatz
       schwerer Forstmaschinen verzichten oder bei Rodungen auf die Brutzeit der
       Vögel Rücksicht nehmen müsse, wie die EU fordert. „Es wäre schlimm, wenn
       man uns hindern wollte, den Wald für Bioenergie zu nutzen“, sagte auch der
       sozialdemokratische EU-Minister Hans Dahlgren.
       
       Schwedens Wälder sollen für alles liefern: Holz für Wärme- und
       Treibstoffproduktion. Holz als Baustoff, der im Hausbau zunehmend Beton und
       Stahl ersetzen soll. Und auf Holzbasis sollen Produkte beruhen, die bislang
       aus Plastik und Baumwolle gefertigt werden. Wie der Wald das schaffen und
       zusätzlich noch seine Funktion als Kohlendioxidspeicher bewahren kann? Gar
       nicht, denn der Wald reiche nun einmal nicht für alles, sagt Tomas
       Lundmark, Professor für Waldwirtschaft an Schwedens
       Landwirtschaftsuniversität SLU in Uppsala: „Die Erwartungen an den Wald
       sind schlicht und ergreifend unrealistisch.“ Derzeit werde das Tempo bei
       den Rodungen rücksichtslos hochgefahren, um den wachsenden Bedarf zu
       decken.
       
       ## Abrodung nimmt zu
       
       94 Millionen Kubikmeter Holzrohware wurden 2019 in Schweden abgeholzt – die
       vorläufigen Zahlen für 2020 liegen etwa auf gleichem Niveau. Das ist die
       dritthöchste Menge, seit 1942 mit der entsprechenden Statistik begonnen
       wurde, und der höchste Wert seit 2007. Diese Menge konnte nur erreicht
       werden, weil immer jüngere Wälder gerodet werden und die Fläche der
       geschützten Wälder stetig schrumpft.
       
       Noch nie hat es in Schweden so wenig Altwälder gegeben wie heute.
       Gleichzeitig verarmt die biologische Vielfalt mehr und mehr. Allein die
       Zahl der vom Aussterben bedrohten Arten, die von Waldumgebung abhängig
       sind, ist in Schweden seit 2015 um 13 Prozent gestiegen, zeigt ein Report
       des WWF aus dem vergangenen Jahr.
       
       Die bisherigen Schutzmechanismen haben sich als völlig unzureichend
       erwiesen. Verschärfen will die Regierung sie aber nicht. Wie man in
       Schweden ja sowieso immer gern eher auf Empfehlungen statt auf Zwang und
       Verbote setzt, gilt auch in dem seit 1993 geltenden Forstwirtschaftsgesetz
       für Waldbesitzer grundsätzlich das Prinzip „Freiheit mit Verantwortung“.
       Weite Interpretationsspielräume und fehlende Sanktionen haben dazu geführt,
       dass sich die Waldkonzerne bei ihrer Waldbewirtschaftung nur ausnahmsweise
       von der Rücksicht auf Umwelt und biologische Vielfalt bremsen lassen.
       
       37 Prozent aller Abholzungen seien gesetzeswidrig, beklagte schon 2011 ein
       Untersuchungsbericht. Konsequenzen habe das nicht, weil die Vorschriften so
       konstruiert seien, dass kein Gericht eine Strafe aussprechen könne.
       Forstsiegel wie FSC und PEFC hätten sich sowieso als zahnlos erwiesen. Aus
       „Freiheit mit Verantwortung“ sei in der Realität „Freiheit ohne
       Verantwortung“ geworden. Zehn Jahre später ist das Urteil eher noch
       vernichtender.
       
       Von einer „totalen Havarie“ spricht der Waldbiologe Sebastian Kirppu: „Die
       schwedische Forstwirtschaft ist aus ökologischer Sicht weder
       umweltfreundlich noch nachhaltig, und sie ist es nie gewesen.“
       WWF-Waldexperte Peter Roberntz kritisiert: „So wie in Schweden die
       Forstwirtschaft historisch und aktuell betrieben wird, geht es in die
       falsche Richtung.“
       
       ## Der Markt wird es nicht lösen
       
       Skogsstyrelsen geht davon aus, dass das Potenzial der schwedischen Wälder
       nahezu ausgeschöpft ist. Bis 2050 lasse sich die Holzernte nur noch minimal
       über das jetzige Niveau hinaus, nämlich allenfalls auf 102 Millionen
       Kubikmeter jährlich steigern. Aber auch das nur für den Fall eines für das
       Waldwachstum positiven Klimaeffekts. Allein für den wachsenden Bedarf an
       Bioenergie rechnet man aber mit einer um 80 Millionen Kubikmeter höheren
       Nachfrage an Holzrohware: Also etwa 175 Millionen Kubikmeter. Und dabei
       sind künftige Nutzungen, für die man auch noch gerne auf den Wald zählen
       möchte, noch gar nicht mit eingerechnet.
       
       Eine im letzten Herbst veröffentlichte Studie der SLU warnt davor, die
       Zukunft des Waldes weiterhin der Verantwortung der sogenannten Marktkräfte
       zu überlassen. „Die Abholzung schutzwürdiger Wälder im großen Stil zu
       erlauben, wäre eine katastrophale Maßnahme, die sämtliche Artenschutz- und
       Klimaschutzziele untergräbt“, sagt Angelika Krumm, Papierexpertin von Robin
       Wood. „Eine Regierungspolitik, die nur die Profite der Holzwirtschaft
       bedient, verspielt unsere Zukunft.“
       
       Ebenso wie in den drei vorangegangenen Jahren führt Schweden auch 2021 den
       „Klimaschutz-Index“ von Germanwatch, dem New Climate Institute und dem
       Climate Action Network an, auf den es Deutschland in diesem Jahr nur auf
       Rang 19 geschafft hat. Zu Recht? „Zu behaupten, dass Schweden mit seinen
       derzeit unterdimensionierten Klimazielen und einer unzureichenden Politik
       die Führung bei der Gestaltung einer klimaneutralen nachhaltigen
       Wohlfahrtsgesellschaft übernehmen könnte, ist schlichtweg irreführend“,
       lautet das Fazit einer aktuellen Analyse von Energiexpertin Åsa Sohlman und
       Siv Ericsdotter vom Stockholm Resilience Centre.
       
       5 Aug 2021
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Reinhard Wolff
       
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