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       # taz.de -- Stiko-Chef Mertens zur Nachimpfung: „Erkenntnisse brauchen Zeit“
       
       > Sollen Risikogruppen nachgeimpft werden? Stiko-Chef Thomas Mertens findet
       > das politisch verständlich, wissenschaftlich sei das aber nicht gedeckt.
       
   IMG Bild: Dritter Shot? Viele haben nicht einmal den ersten! Open-Air-Festival im Juli
       
       taz: Herr Mertens, gerade mal die Hälfte der Bevölkerung ist voll geimpft,
       da reden wir schon von Auffrischungsimpfungen. Ist das wirklich nötig? 
       
       Thomas Mertens: Es gibt ganz sicher Gruppen von Menschen, bei denen eine
       baldige Nachimpfung sinnvoll ist, dazu gehören vor allem immunsupprimierte
       Menschen.
       
       Also Menschen, deren Immunsystem nach einer Organtransplantation
       unterdrückt wird. 
       
       Zum Beispiel. Außerdem wissen wir aus Laborstudien, dass ältere Menschen im
       Durchschnitt schlechtere Immunantworten haben als jüngere und dass diese
       Immunreaktion auch über die Zeit nachlässt.
       
       Sie könnten also nach gewisser Zeit trotz Impfung schwer an Covid-19
       erkranken? 
       
       Das wissen wir noch nicht. Die Frage der Dauer des Impfschutzes vor
       Erkrankung ist derzeit wissenschaftlich nicht beantwortet. Die Laborwerte
       geben da nur eine Hilfestellung, sind aber ganz sicher keine absolute
       Antwort.
       
       Warum wird überhaupt davon ausgegangen, dass die Impfung nicht lebenslang
       hält wie bei Masern oder wenigstens zehn Jahre wie bei Tetanus? 
       
       Das hängt zum einen mit dem Impfstoff zusammen. Die Impfstoffe müssen im
       Idealfall das gesamte Immunsystem „scharf“ machen. Nun wissen wir aber,
       dass die Impfstoffe, die wir derzeit verwenden, sehr gezielt
       neutralisierende Antikörper und eine T-Zell-Immunität generieren. Diese
       Immunantwort ist aber nicht so breit wie bei jemandem, der eine Infektion
       durchgemacht hat, weil da noch andere Antigene ins Spiel kommen.
       
       Und der andere Faktor? 
       
       … ist der Erreger selbst. Es gibt Viren wie das Poliovirus oder das
       Hepatitis-A-Virus, die auch bei natürlicher Infektion eine lebenslange
       Immunität hinterlassen. Und es gibt andere Viren, bei denen das nicht der
       Fall ist. Das gilt gerade auch für die Corona-Schnupfen-Viren, die schon
       lange bei uns unterwegs sind. Es war also schon vorher anzunehmen, dass es
       auch bei Sars-Cov-2 nicht zu einer lebenslangen Immunität kommt.
       
       Kann es aber sein, dass bei jüngeren Menschen mit einer guten Immunantwort
       der Impfschutz mehrere Jahre andauert? 
       
       Das kann gut sein. Aber wie gesagt: Wir wissen noch nicht, welche Gruppe
       von Geimpften wie lange geschützt ist.
       
       Woher kommen eigentlich die Studienergebnisse zum empfohlenen Zeitpunkt von
       Nachimpfungen? Etwa von den Impfherstellern wie jüngst von Biontech/Pfizer,
       die empfehlen, schon nach 6 Monaten aufzufrischen? 
       
       Die Hersteller kennen aus den Zulassungsstudien bereits die Menschen, die
       sehr früh ihre Grundimmunisierung bekommen haben, und die sollte man
       natürlich unbedingt nachverfolgen. Gerade hier kann ich gut überwachen, wie
       sich die Immunantwort über die Zeit verhält und ob es Infektionen und
       Erkrankungen trotz Impfung gibt. Man müsste eigentlich die Hersteller dazu
       verpflichten, das langfristig zu tun.
       
       Gleichzeitig schrillen da aber die Alarmglocken: Es sind ja gerade die
       Hersteller, die ein hohes finanzielles Interesse an der Notwendigkeit von
       Auffrischungsimpfungen haben. 
       
       Die FDA (die US-Arzneimittelbehörde; d. Red.) hat genau aus diesem Grund
       auch zurückhaltend auf die Pfizer-Meldung reagiert und gesagt, wir brauchen
       noch mehr Daten zur Notwendigkeit und zum notwendigen Zeitpunkt der
       Impfung.
       
       Gibt es Impfstoffe, für die Sie eine schnellere notwendige Nachimpfung
       erwarten – zum Beispiel beim Einmalimpfstoff von Johnson & Johnson? 
       
       Ja, es gibt erste Erkenntnisse, die darauf hindeuten, dass man bei Johnson
       & Johnson wahrscheinlich nachimpfen muss.
       
       Also können sich Johnson & Johnson-Geimpfte schon mal darauf einstellen,
       dass sie früher als andere, vielleicht schon diesen Herbst oder Winter,
       nachimpfen sollten? 
       
       Das kann man vermuten, ja.
       
       Ist bei den Auffrischungsimpfungen der Impfstoff dann beliebig mischbar
       oder sollte man doch wieder denselben Impfstoff verwenden? 
       
       Beliebig mischbar sicher nicht. Aber mittlerweile wissen wir, dass [1][die
       Kombination] – erst Vektorimpfstoff, dann mRNA-Impfstoff – sehr gut
       funktioniert. Insofern ist bezogen auf Johnson & Johnson auch recht einfach
       zu sagen, dass man die Auffrischungsimpfung mit einem mRNA-Impfstoff machen
       sollte.
       
       Die Auffrischungsimpfungen sind ja vor allem auch vor dem Hintergrund der
       Deltavariante relevant. Sollte man dann nicht die angepassten Impfstoffe
       abwarten, oder dauert das eh noch zu lang? 
       
       Es gibt schon Studien mit an die Deltavariante angepassten Impfstoffen –
       bei den mRNA-Impfstoffen ist das ja nicht so kompliziert. Ich vermute aber,
       dass es noch bis in den Herbst dauern wird, bis die zur Verfügung stehen.
       Andererseits ist man ja immer wieder erstaunt, wie die Dinge in dieser Zeit
       beschleunigt werden.
       
       Kann man von zu viel Impfung auch krank werden? 
       
       Tetanus wurde ja eine Zeit lang quasi bei jeder Gelegenheit geimpft. Man
       hat dann festgestellt, dass es bei sehr häufiger Impfung zu einer
       Anschwellung der Lymphknoten im Abflussgebiet des Impfstelle kam. Aber
       systemische, schwere Nebenwirkungen von Mehrfachimpfungen sind bislang
       nicht bekannt.
       
       Alle derzeit verwendeten Impfstoffe haben auch seltene Nebenwirkungen wie
       etwa bestimmte Thrombosen oder Herzmuskelentzündungen. Steigt oder sinkt
       dieses Risiko mit der Mehrfachimpfung? 
       
       Das wissen wir nicht genau. Woher auch? Es gibt erst kleine Kollektive,
       etwa Nierentransplantierte, die [2][bereits drittgeimpft] wurden und
       wissenschaftlich untersucht werden. Da muss ich auch noch mal etwas
       Grundsätzliches sagen: Wenn wir eine Infektionserkrankung haben, die neu
       für den Menschen ist, wenn wir schnell viele neue Impfstoffe entwickelt
       haben und schnell impfen, dann können wir nicht erwarten, dass wir die
       gleiche Erkenntnislage haben wie bei Impfstoffen, die wir seit dreißig
       Jahren verwenden. Das ist eine unglaublich triviale Tatsache, die für alle
       Anwendungen in der Medizin gilt, aber die muss man in diesen Zeiten immer
       mal wiederholen. Erkenntnisse brauchen Zeit, alles andere ist Spekulation.
       
       Wer legt denn jetzt genau fest, wer wann eine Auffrischungsimpfung bekommen
       sollte? 
       
       Im Prinzip sollte das die Stiko machen. Aber die Stiko kann es natürlich
       nur machen, wenn sie entsprechende Daten, Erkenntnisse, Erfahrungen hat,
       auf deren Grundlage sie eine Empfehlung aussprechen kann. Da wird sicher
       wieder gesagt, die böse Stiko macht das nicht. Aber wie sollen wir sonst
       vorgehen?
       
       Wenn wir noch nicht wissen, wer genau gefährdet ist, und das Risiko nach
       Ihren Ausführungen überschaubar ist, könnte man sicherheitshalber doch
       einfach großzügig auffrischen. 
       
       Das ist ja das, was die Gesundheitsministerkonferenz jetzt beschlossen hat.
       
       Ist das eine für Sie nachvollziehbare Herangehensweise, die einfach nur von
       Ihrer abweicht? 
       
       Ich denke, das ist eine politisch mögliche Entscheidung. Es darf halt nicht
       falsch etikettiert werden. Es muss klar gesagt werden, dass jetzt alle
       älteren Leute zur Nachimpfung kommen sollen, weil man denkt, das schadet
       nicht und weil man auf keinen Fall will, dass wieder Menschen im Altenheim
       sterben. Das ist dann keine evidenzbasierte Empfehlung, das ist ja klar,
       sondern eine politische Vorsorgemaßnahme.
       
       Gilt das nicht auch für den Beschluss, alle [3][Kinder ab 12 auch ohne die
       generelle Stiko-Empfehlung impfen] zu wollen? 
       
       Bei den Kindern kommen noch ein paar andere Aspekte dazu. Zum Beispiel,
       dass in Wirklichkeit die 18- bis 59-Jährigen umfassender geimpft werden
       müssen, um die vierte Welle abzuflachen. Im Augenblick wird diese
       Diskussion auf die Kinderimpfungen verschoben. Das lenkt im Übrigen auch
       von der Frage ab, ob die Maßnahmen für den Kita-und Schulbereich, die von
       einer Vielzahl von Fachgesellschaften erarbeitet wurden, tatsächlich
       umgesetzt werden. Da ist es natürlich einfacher zu sagen: Lasst mal alle
       impfen. Da rücken auch die 9,1 Millionen Kinder unter 12 aus dem Fokus, die
       gar nicht geimpft werden können – also alle Grundschulkinder, alle
       Kitakinder. Die politische Motivation bei den Kinderimpfungen scheint mir
       insgesamt doch eine andere zu sein als bei den Auffrischungsimpfungen.
       
       Wann ist von der Stiko mit einer evidenzbasierten Empfehlung zu den
       Nachimpfungen zu rechnen? 
       
       Das liegt auf jeden Fall in einer anderen zeitlichen Dimension als die
       aktualisierte Empfehlung zu den Kinderimpfungen, die sehr bald kommen wird.
       Sie dürfen im Übrigen nicht denken, dass wir erst eine Entscheidung fällen,
       wenn wir „alle“ Daten haben. Im Grunde ist bei unserer Arbeit immer die
       Frage: Mit wie viel fehlender Evidenz können wir leben?
       
       5 Aug 2021
       
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