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       # taz.de -- Kästner-Verfilmung „Fabian“ im Kino: Im Exzess klaren Kopf behalten
       
       > Dominik Graf nimmt sich in der Kästner-Adaption „Fabian oder Der Gang vor
       > die Hunde“ einige Freiheiten. Sein Film fiebert durchs Berlin der
       > Dreißiger.
       
   IMG Bild: Fabian (Tom Schilling) hadert mit dem politisch kälter werdenden Vorkriegsdeutschland
       
       Ein hungriges Monster ist die Stadt. Schnappt sich einen, kaut einen durch
       und verschluckt einen. Oder spuckt einen gleich wieder aus, lädiert und
       angefressen. Einem „Rummelplatz“ glich Berlin, schrieb Erich Kästner 1931
       in „Fabian“, „die Häuserfronten waren mit buntem Licht beschmiert, und die
       Sterne am Himmel konnten sich schämen“.
       
       Fabian (Tom Schilling) greift in [1][Dominik Grafs] Verfilmung von Kästners
       großem Gesellschaftsroman den unsteten Metropolenrhythmus auf. Vor Hanno
       Lentz’ vielschichtiger Kamera promeniert, wankt und tanzt er, manchmal
       steht oder liegt er still, dann ist es die Kamera, die promeniert, wankt
       und tanzt.
       
       Manchmal springt er, oder jemand anderes springt, zum Beispiel über eine
       große Regenpfütze auf der lauten Straße. Ganz so wie der unbekannte Mann
       auf Henri Cartier-Bressons Foto „Hinter dem Gare Saint-Lazare“ von 1932,
       einem Bild, das in seiner Schnappschusshaftigkeit für den „moment décisif“
       steht: für den entscheidenden Moment.
       
       Denn 1931, das Jahr, in dem Fabian durch den Moloch Berlin promenierte, war
       ein solch entscheidender Moment, den Regisseur Dominik Graf mit allen zur
       Verfügung stehenden filmischen Mitteln einfängt.
       
       Seine Kinoadaption, es ist die zweite nach Wolf Gremms Film von 1980, wühlt
       sich entschlossen in jene Zeit, in der die sich anbahnende, menschgemachte
       Katastrophe zu fühlen war. Sie steigt bereits mit einer Zeitreise ein:
       „Fabian oder Der Gang vor die Hunde“ beginnt im heutigen U-Bahnhof
       Heidelberger Platz, die Kamera nimmt die Treppe aufwärts und taucht 1931
       wieder auf, in dem Teil der Vergangenheit, der unsere Gegenwart formte.
       
       ## Ein observierender Moralist
       
       Auf unterschiedlichen Filmmaterialien, in Collagen mit schwarz-weißen
       Originalaufnahmen, in Schwenks, Reißzooms und Kreisen begleitet sie
       daraufhin den Protagonisten von Buch und Film, Kästners observierenden
       Moralisten: „Fabian, Jakob, 32 Jahre alt, Beruf wechselnd, zur Zeit
       Reklamefachmann, Schaperstraße 17, herzkrank, Haarfarbe braun“, heißt es im
       Roman. Und nicht nur der Beruf wechselt, auch seine Intention: Fabian sucht
       mal den Sex und mal die Liebe, mal die Freundschaft und mal das Vergnügen,
       mal den besten Spruch und mal die Moral in der Geschichte.
       
       Bei Graf folgt diese Geschichte stärker als im Original der Dramaturgie
       einer Lovestory. Erst lernt Fabian in einem Nachtclub die flatter- und
       lasterhafte Irene Moll (Meret Becker) kennen, deren Ehemann ihn nach dem
       Aufriss und vor dem Sex um Unterzeichnung eines Vertrags bittet, weil sich
       seine Angetraute verpflichtet habe, „jeden Menschen, mit dem sie in intime
       Beziehungen zu treten wünscht, zuvor ihrem Gatten vorzuführen“.
       
       Doch dann trifft er auf das Fräulein Cornelia Battenberg (Saskia Rosendahl)
       und verliert sein Herz. Verloren hatte das seinige bereits Fabians bester
       Freund, der trotz Reichtum und angesehener Familie unglückselige Labude
       (Albrecht Schuch), dessen Freundin sich zuvor ohne sein Wissen des
       gemeinsamen ungeborenen Kindes entledigt hat.
       
       ## Er will etwas „richtig“ machen
       
       Wie im Original Kästners legt auch Graf sein Personenkarussell sorgsam als
       moralische und menschliche Typenparade an. Fabian ist derjenige mit der
       geringsten Ambivalenz. Ihm geht es darum, etwas „richtig“ zu machen, er
       hadert mit seinem Beruf, mit Kompromissen, die im politisch kälter
       werdenden Vorkriegsdeutschland unvermeidbar sind. Schilling spielt ihn als
       Projektionsfläche – er tut nicht viel, man sieht ihm wenig an, statt seine
       Gefühle preiszugeben, schaut er lieber zu.
       
       Rosendahl gibt der kessen, ziemlich modernen Möchtegern-Schauspielerin
       Cornelia, die zu Fabian „Ich nehm noch drei Küsse zum Nachtisch“ sagt, eine
       fast zu makellose Schönheit mit – so wird zwar verständlich, wieso Fabian
       verzaubert ist, doch zusammen wirken die beiden manchmal nicht real genug,
       eher wie das Poesiealbum-Glanzbild eines 20er-Jahre-Pärchens. Schuch ist
       ein zweifelnder, gleichzeitig anziehender und abstoßender Labude, dem seine
       Probleme, die final zu einer persönlichen Tragödie führen, anzusehen sind.
       
       Und Meret Becker, die wie kaum ein:e andere:r aus dem Cast mühelos und
       mit ganzer Seele die 20er und 30er verströmt, ist eine verstörende und
       zerstörte Sirene, deren Charme nach einer durchzechten Nacht im Morgenlicht
       flackert wie eine morbide Gaslatüchte.
       
       ## Eine permanent betrunkene Stadt
       
       Graf hat sich bei seiner Adaption viele Freiheiten genommen, die den Film
       fiebriger wirken lassen als den Roman, den Kästner mit seinen sicheren
       Formulierungen und seinem extratrockenen Sprachwitz sachlich gehalten
       hatte.
       
       Bei Graf dreht die Story Pirouetten, irrt wie betrunken durch die
       anscheinend wirklich permanent betrunkene und ohnehin grundverlotterte
       Stadt – angeblich, so heißt es in einem Buch des US-amerikanischen
       Theaterexperten und Berlinforschers Mel Gordon, verdienten in den späten
       20ern, also kurz vor „Fabian“, über 130.000 alte, junge und sehr junge
       Berliner:innen ihren Lebensunterhalt teils oder ganz durch Prostitution
       – bei zirka vier Millionen Einwohner:innen.
       
       Inmitten dieses Strudels und umringt vom Exzess, der langsam dem neuen,
       tödlichen Nazi-Regularium zu weichen beginnt, versucht Fabian einen klaren
       Kopf zu behalten – und schafft es nicht. Auch der Film verliert
       folgerichtig und bewusst zuweilen seinen Fokus und unterscheidet sich damit
       von anderen Geschichten aus dieser Stadt und dieser Zeit, von der
       hervorragend ausgestatteten, aber deutlich „plot-driven“ inszenierten Serie
       [2][„Babylon Berlin“], und von [3][Burhan Qurbanis „Berlin
       Alexanderplatz“], der erst gar nicht in die Vergangenheit reist, sondern
       die Geschichte in die Gegenwart verlegt.
       
       ## „Stolpersteine“ zur Irritation
       
       Graf dagegen möchte die beginnenden 30er Jahre mit all ihrem Schrecken
       heutig erlebbar machen. Darum spielt er mutig mit Optik und Sound, flicht
       [4][zur bewussten Irritation „Stolpersteine“] und eine Babelsberger
       Filmkulisse ein und lässt im Hintergrund Geräusche sich überlappen, um die
       Atem- und Orientierungslosigkeit seines Settings zu demonstrieren. So
       verwirrend ist das, was Fabian erlebt und fühlt, dass Graf zwei ruhige,
       wohlklingende Erzähler:innenstimmen in den Hintergrund gestellt hat,
       die aus dem Roman zitieren oder Fabians Gedankenwelt veranschaulichen: „Wo
       ist Labude? WO IST LABUDE?“
       
       Immer wieder arbeitet sich Graf zudem bildlich an einem anderen,
       exzeptionellen Berlin-Werk ab: Walter Ruttmann fing in seinem
       experimentellen Dokumentarfilm „Berlin – Die Sinfonie der Großstadt“ vier
       Jahre vor Kästners Buch stumm den Sound und die Atmosphären der Stadt ein
       und montierte sie zu einer eindrücklichen und lebendigen Agglomeration des
       Urbanen und des (damals) Modernen.
       
       Die dazu von Edmund Meisel geschriebene Musik, von der nur noch eine
       Klavierfassung erhalten ist, scheint für Grafs Musiker Florian van Volxem
       und Sven Rossenbach ebenfalls zum Teil Pate gestanden zu haben – ihr
       Soundtrack, der von verzerrter Gitarre bis zum romantischen Liedgut reicht,
       erinnert vor allem in einigen Klavierpassagen an Meisel.
       
       Es fehlt dennoch Kästners nüchterne Lakonie, die auf der einen Seite die
       Verzweiflung seines Fabians und auf der anderen, der Leser:innenseite,
       die Empathie mit ihm verstärkte: Im Buch funkelt der knappe Humor, weil die
       Umgebung verzweifelt und kühl wirkt. Im Film gehen die Worte und Bilder
       zuweilen in der Experimentierfreude der Machart unter. Dennoch ist „Fabian“
       draufgängerisch, seine ästhetischen Entscheidungen sind mutig. Auf dem Weg
       vor die Hunde schwimmt Fabian geschmeidig durch die Stadt. Obwohl er
       bekanntlich nicht schwimmen kann.
       
       4 Aug 2021
       
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