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       # taz.de -- Journalist über Anschlag auf ihn: Weiterschreiben unter Polizeischutz
       
       > Der türkische Journalist Erk Acarer vermutet hinter dem Überfall auf ihn
       > in Berlin den langen Arm Erdoğans. Er lässt sich nicht mundtot machen.
       
   IMG Bild: Erk Acarer im Berliner Exil 2018
       
       Es sind jetzt zwei Wochen vergangen, seit ich im Innenhof meines
       [1][Berliner Wohnhauses überfallen und tätlich angegriffen wurde]. Dabei
       schrien die Täter mich auf Türkisch an: Ich solle nicht mehr schreiben,
       denn bald werde ich sowieso nichts mehr schreiben können.
       
       Meine Reaktion auf diesen Angriff: Ich recherchiere und schreibe noch mehr
       als zuvor.
       
       Seit Jahren ist die türkische Regierung mit Vorwürfen konfrontiert, die von
       Korruption, Drogenhandel und paramilitärischen Aktivitäten im In- und
       Ausland bis zur Unterstützung dschihadistischer Gruppen reichen. Nun sorgt
       der Mafiaboss Sedat Peker dafür, dass diese Vorwürfe nicht mehr als
       Gerüchte abgetan werden können.
       
       Nachdem Peker mit seinen langjährigen Partnern innerhalb der türkischen
       Regierung gebrochen hatte, verließ er die Türkei und sendete
       Youtube-Videos, in denen er auspackt, was er über kriminelle Machenschaften
       innerhalb der Regierung und rund um die Regierung weiß. Unter anderem geht
       es um illegale Waffenlieferungen und Drogenschmuggel aus Venezuela, häufig
       sollen Kinder hochrangiger AKP-Mitglieder darin verwickelt sein.
       
       Peker spricht als ein unmittelbarer Kronzeuge, der über Jahre hinweg ein
       wichtiger Weggefährte der Erdoğan-Regierung war, und kann seine Aussagen
       mit Dokumenten bekräftigen. Seine Aussagen haben ein riesiges Echo, und
       viele Wähler*innen glauben ihm. Der Regierung passt es natürlich
       überhaupt nicht in den Kram, dass Peker die schmutzige Wäsche hervorkramt.
       In der Bevölkerung wächst die Kritik an der Regierung ohnehin schon
       gefährlich rapide, und die wohlwollende Zustimmung nimmt sichtbar ab.
       
       ## Motiv: Die Angst, dass Geheimnisse ans Licht kommen
       
       Die Konsequenz daraus sind verschärfte Repressionsmaßnahmen gegen
       Medienschaffende, die den Spuren nachrecherieren, die Peker gelegt hat.
       Dabei werden einzelne Journalist*innen gezielt für vogelfrei erklärt.
       Ich gehe davon aus, dass auch der Angriff auf meine Person den gleichen
       Hintergrund hat: die Furcht vor dem Auffliegen schmutziger Geheimnisse und
       der Wunsch, kritische Journalist*innen mundtot zu machen. Ich bin mir
       sicher, dass ich aus politischen Gründen angegriffen wurde, dass es sich um
       einen politischen Angriff handelte.
       
       Investigative Journalist*innen sind bei Machthaber*innen weltweit
       nicht sehr beliebt. Und bekanntlich auch nicht in der Türkei. Die
       feindliche Stimmungsmache gegen Medienschaffende hat auch den Boden für den
       Angriff auf mich bereitet. Schon Ende April griff mich der türkische
       Innenminister Süleyman Soylu auf Twitter persönlich an und bezeichnete mich
       aufgrund einer Meldung, die ich geteilt hatte, als „Narren“. Und er
       beschuldigte mich, für den deutschen Geheimdienst zu arbeiten.
       
       Als direkte Antwort auf den Tweet des Innenministers Soylus schlug der
       Vorsitzende der Ethikkommission der AKP, Kemalettin Aydın, der auch Rektor
       einer medizinischen Hochschule ist, auf Twitter vor, mich mit Strychnin
       einzuschläfern.
       
       Mir ist also schon lange klar, dass ich auf einer Feindesliste der AKP
       stehe.
       
       Es ist deswegen kein unwichtiges Detail, dass einer der Täter mich auf
       Türkisch anbrüllte und dabei ein Wort sagte, das sowohl bedeuten kann, dass
       ich nicht mehr schreiben soll, oder auch, dass ich nichts mehr schreiben
       können werde. Ich glaube, dass an mir ein Exempel statuiert werden sollte.
       Dass [2][der Überfall auf mich] als Abschreckung initiiert wurde. Der
       Palästebauer Erdoğan will zeigen, dass sein starker Arm bis nach Europa
       reicht, und wenn er hier solche Taten veranlassen und damit ungestraft
       davonkommen kann, es im Inland erst recht niemand wagen können sollte, den
       Mund aufzumachen.
       
       Deshalb habe ich in meinen ersten Reaktionen auf den Angriff schon darauf
       hingewiesen, dass Erdoğan und seine Schergen die Täter sind.
       
       Und genau deshalb ist es auch so wichtig, zu betonen, dass ich weitermachen
       werde. Ich werde meinen Beruf weiter ausüben.
       
       Aber es ist auch eine Tatsache, dass sich in meinem Leben vieles geändert
       hat. Meine Familie und ich stehen jetzt unter Polizeischutz. Nach all den
       Jahren als Reporter im Feld, teilweise sogar in Kriegsgebieten, fühlt es
       sich seltsam an, jeden Schritt im Alltag mit der Polizei koordinieren zu
       müssen.
       
       ## Kein Sicherheitsgefühl mehr
       
       Ich bin immer noch fassungslos darüber, dass der Angriff in meinem eigenen
       Wohnhaus und vor den Augen meiner Frau stattfand, während unsere Tochter
       sich in der Wohnung befand.
       
       Und nach dem Überfall war es nicht vorbei. In der Nacht von Montag auf
       Dienstag wurde im Garten unseres Wohnhauses ein hartgekochtes Hühnerei
       deponiert, eingewickelt in einen Zettel, auf dem auf Türkisch „Wart’s ab“
       stand. Die Polizei machte mich früh morgens darauf aufmerksam.
       
       Wir können uns in dieser Stadt nicht mehr so sicher fühlen wie zuvor. Im
       Krankenwagen dachte ich plötzlich: Ich bin in der Türkei. In dem Land, aus
       dem ich vor einigen Jahren hierher, nach Deutschland, geflohen war. Ich und
       meine Familie, wir werden Zeit brauchen, um wieder Vertrauen in ein
       sicheres Leben aufzubauen.
       
       Ich führe jede Woche mehrere Gespräche mit der Polizei über meine
       Sicherheit und den Fortschritt der Ermittlungen. Die Akte liegt jetzt bei
       der Staatsanwaltschaft, die Ermittlungen dauern an. Bis die Täter vor
       Gericht stehen, werde ich fordern, dass die europäischen Verbindungen und
       Vernetzungen der Erdoğan-Regierung ans Tageslicht kommen und aufgeklärt
       werden.
       
       Es ist ja so, dass zwischenstaatliche Beziehungen stärker auf
       Wirtschaftsinteressen als auf politischen Belangen wie Demokratie und
       Menschenrechten basieren. Die Auswirkungen dieser Priorisierung zu
       beschreiben gehört zu den relevanten Aufgaben von Journalist*innen. Die
       Janusköpfigkeit der Politik aufzuzeigen steht auf unserer Aufgabenliste
       ziemlich weit oben.
       
       Nach dem Überfall auf meine Person gab es sowohl aus der Türkei als auch
       aus Deutschland viele Reaktionen, die mir Hoffnung machen. Es herrschte
       eine große Anteilnahme in der Öffentlichkeit und eine klare Haltung der
       Medien, die sich für Freiheit und Menschenrechte einsetzen.
       
       Bei Tageslicht drangen drei bärtige, durchtrainierte Männer in unser
       Wohnhaus ein und griffen mich unter Beschimpfungen an, bevor ich überhaupt
       registrierte, wer sie waren. Es hätte sein können, dass ich den Angriff
       nicht überlebe. Ich mache mir deswegen nicht nur Sorgen um mein eigenes
       Leben, sondern auch um das meiner Kolleg*innen. Aktivist*innen,
       Demokrat*innen, Sozialist*innen, Alevit*innen, Kurd*innen und
       insbesondere dissidente Politiker*innen – sie sind alle gefährdet. Wer
       sich für eine Aufklärung interessiert und die Wahrheit über das türkische
       Regime wissen will, wird verstanden haben, dass sich dieser Angriff nicht
       nur gegen mich richtete. Und das wiederum ist auch eine gute Nachricht.
       
       Aus dem Türkischen übersetzt von Oliver Kontny
       
       25 Jul 2021
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Erk Acarer
       
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