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       # taz.de -- Ein Krieg wegen Ideen
       
       > Yulia Marfutova erzählt in ihrem Debütroman „Der Himmel vor hundert
       > Jahren“ mit poetischer Leichtigkeit davon, wie in einem russischen Dorf
       > die Revolution langsam Einzug hält
       
   IMG Bild: Im Roman „Der Himmel vor hundert Jahren“ orientieren sich die Dorfbewohner am Rhythmus des Flusses
       
       Von Viktoria Morasch
       
       Es ist Revolution, und keiner kriegt’s mit. So muss es gewesen sein,
       [1][1918 in vielen russischen Dörfern, weit weg von Moskau und St.
       Petersburg]. Vielleicht gar nicht so weit weg in Kilometern, aber dafür in
       Welten.
       
       Die kleine Welt eines solchen Dorfs beschreibt Yulia Marfutova in ihrem
       Debütroman „Der Himmel vor hundert Jahren“. Die Autorin wurde 1988 in
       Moskau geboren, studierte Germanistik und Geschichte in Berlin und lebt
       heute in Boston. Mit diesem Buch war sie zuletzt für den Debütpreis des
       Buddenbrookhauses nominiert.
       
       Mit einfachen, wahren Sätzen führt Marfutova ihre Leser*innen in die
       Vergangenheit, in ein Dorf, in dem alles sehr reduziert ist und nicht näher
       benannt werden muss: Markt, Dorf, Fluss, Wald. Namen haben hier wenig
       Bedeutung. Die Menschen heißen ja selbst Ilja, nur weil der Vater Ilja
       hieß. Ilja Iljitsch, Pjotr Pjotrowitsch. „Wenn die Leute Kinder kriegen,
       dann haben sie Besseres zu tun, als sofort in die Stadt zu gehen. Meist
       warten sie ein, zwei Jahre, manchmal länger. Am günstigsten ist es, die
       Geburt eines zweiten Kindes abzuwarten“, heißt es im Buch. Der Beamte in
       der Stadt setzt als Geburtstag das Ausstellungsdatum der Geburtsurkunde
       fest, fertig. Ein Fetzen Papier, was ist das schon. Das Alter der Menschen
       wird grob in Ernten berechnet oder im Vergleich zur Trauerweide oder
       dadurch, dass man sich fragt, ob der Bart schon grau war, als die
       Uferböschung befestigt wurde.
       
       Der Fluss trägt Neues ins Dorf, „hier in der Gegend hat schließlich alles
       mit dem Fluss zu tun; alles hat mit allem zu tun und jeder mit jedem“. Die
       wertlosesten Dinge sind dabei die wertvollsten. Zum Beispiel ein Röhrchen
       mit Quecksilber drin. Es hilft dem alten, weisen Ilja dabei, das Wetter zu
       bestimmen und damit auch die Zukunft. Einige Dorfbewohner*innen
       verfallen dem Iljianismus. Die Konkurrenzbewegung der Pjotrianer
       orientiert sich lieber an der Natur, vor allem am Fluss. Dass es Fluss- und
       Waldgeister gibt, bezweifeln die wenigsten.
       
       Es mangelt an jungen Männern im Dorf. „Drei sind aus dem letzten Krieg
       heimgekehrt, aus dem gegen die Japaner. Man hat sie gefragt, und sie haben
       einvernehmlich erklärt, Japan sei ein fremdes Land. Das liege weit hinter
       dem Fluss und könne sie kreuzweise.“ Politisch ist man hier wenig
       involviert. Die Männer erzählen nicht vom Krieg, und der alte Ilja sagt
       meistens nur „mhm“.
       
       Trotzdem zieht sich ein Plaudern durchs Buch, das Tuscheln, die Neugier der
       Dorfbewohner*innen, ihre abergläubischen Selbstgespräche und
       Marktplatzdialoge. „Entweder nämlich ist man hier in der Gegend redselig,
       sehr sogar. Oder man schweigt. Ein Dazwischen gibt es nicht.“ Marfutova
       gelingt es wahnsinnig gut, beides als Grundtöne der Geschichte durch das
       Buch zu führen.
       
       Eines Tages kommt ein junger Mann ins Dorf, ein Neuer: Wadik. Er trägt eine
       Offiziersuniform, ist aber kein Offizier. Noch so ein rätselhafter Mann,
       der am liebsten schweigt. Nur der kleinen Anna gegenüber öffnet er sich.
       Wadik fordert die Dorfbewohner*innen auf, die Ikonen in den Häusern
       abzuhängen. Er ist freundlich, aber ein Vorbote von weniger Freundlichen.
       Die sogenannte Realität erreicht irgendwann doch das Dorf. In Form von zwei
       simplen, aber furchteinflößenden Gestalten. Ein Dorfbewohner ist schon
       verschwunden. [2][„Es gibt einen neuen Krieg, einen anderen, wegen Ideen.
       Ideen?“]
       
       Yulia Marfutovas Rhythmus in „Der Himmel vor hundert Jahren“, die
       Wiederholungen und vielen Fragen, geben beim Lesen das Gefühl, wirklich in
       den Köpfen der Protagonist*innen zu sein. Sie greift liebevoll den
       Aberglauben der Dorfbewohner*innen auf, spielt mit Redewendungen und
       alten Weisheiten: „Das Leben ist nicht so einfach wie ein Gang übers Feld.“
       
       Marfutovas Sprache hat eine humorvolle, poetische Leichtigkeit, die schön
       ist und besonders, aber in der Beschreibung der Figuren etwas zuckrig
       wirkt. Ilja, Inna, Pjotr, Warwara, und wie sie alle heißen, sind kauzige,
       niedliche Charaktere mit harmlosen Macken. Beim Lesen stellt sich bald ein
       Gefühl ein, als könnte man sie nicht ernst nehmen oder als würde die
       Autorin das nicht tun, was schade ist.
       
       Die zentralen Motive in Marfutovas Erzählung – Iljas Quecksilberröhrchen,
       das Nichtsprechen, der Markt – tauchen bis zum Schluss immer wieder auf.
       Mag sein, dass ein Dorfleben beschränkt ist auf wenige Orte und Einflüsse,
       dennoch ermüdet die ständige Wiederkehr desselben auf Dauer. Trotzdem: eine
       schöne Lektüre, die schnell dahinfließt und sprudelt wie ein namenloser
       Fluss im sommerlichen Russland, diesem riesigen Land, dessen Vielfalt und
       Widersprüche in Deutschland zu wenig bekannt sind. Durch die historische
       Perspektive in Yulia Marfutovas Buch versteht man dieses Russland ein wenig
       besser. Damals wie heute hat – anders als im Buch beschriebenen Dorf –
       nicht alles mit allem und jeder mit jedem zu tun.
       
       24 Jul 2021
       
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