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       # taz.de -- Ausbeutung von Erntehelfer*innen: Gericht als letzter Ausweg
       
       > Georgische Saisonarbeitskräfte sind in Deutschland um ihren Lohn betrogen
       > worden. Jetzt klagen sie – in Deutschland, aber auch in der Heimat.
       
   IMG Bild: Keine Erntehelfer aus Osteuropa, keine Erdbeeren aus Deutschland
       
       Berlin taz | Jemal Chachanize ist wieder zurück in seinem alten Job. Auf
       einem Markt in der georgischen Stadt Chaschuri verkauft er Obst und Gemüse.
       Aber keine Erdbeeren. Der 30-jährige Georgier war Erntehelfer auf einem
       Erdbeerhof in Friedrichshafen. Am ersten Mai hat er begonnen, doch nach
       wenigen Tagen verließ er fluchtartig seinen Arbeitsplatz in Deutschland und
       kehrte in die Heimat zurück. „Ich ernähre meine Familie. Doch ich bin mit
       leeren Händen zurückgekommen“, sagt er. 1.200 Euro habe er sich ausleihen
       müssen, um seine Rückreise zu finanzieren. „Ich nehme jeden Tag
       Medikamente, um meinen Stress zu reduzieren“, sagt er. Tamila Gabaidze ist
       jetzt seine letzte Hoffnung.
       
       Sie ist Rechtsanwältin beim Georgischen Gewerkschaftsbund (GTUC) in der
       Hauptstadt Tiflis. „Deutsche Hofbesitzer verstoßen gegen Gesetze und gehen
       unwürdig mit den georgischen Arbeitnehmer*innen um“, sagt sie im
       Gespräch mit der taz. Doch der GTUC will jetzt die georgische Regierung vor
       Gericht bringen. Denn es war die georgische Staatsagentur für
       Arbeitsförderung, die die Arbeitsverträge abgeschlossen hat, das heißt,
       diese Behörde kümmert sich um die Arbeitsverträge.
       
       Tamila Gabaidze vertritt derzeit 21 Saisonarbeiter*innen in Tiflis
       vor Gericht. Das Ziel ist, dass ihre Mandant*innen den Lohn erhalten,
       der ihnen vertraglich zugesichert worden ist. Dabei geht es in jedem
       einzelnen Fall immerhin um knapp über 1.000 Euro. Diese Differenz müsse
       dann gegebenenfalls der georgische Staat bezahlen, findet Gabaidze.
       
       Zu dem Fall hat sich mittlerweile auch die georgische Staatsagentur für
       Arbeitsförderung geäußert. „Skrupellose deutsche Arbeitgeber sollten zur
       Rechenschaft gezogen werden. Unsere Agentur ist zusammen mit der
       georgischen Botschaft im Einsatz. Wir hoffen, dass die georgischen
       Saisonarbeiter*innen entschädigt werden“, sagte Nino Veltauiri,
       Direktorin der Staatlichen Agentur für Arbeitsförderung im Interview mit
       dem Georgischen Öffentlichen Rundfunk.
       
       ## Einjähriges Pilotprogramm
       
       Seit dem 15. Februar 2021 erlaubt Deutschland georgischen
       Staatsbürger*innen, einer legalen Beschäftigung in der Landwirtschaft
       nachzugehen. Dabei handelt es sich um ein temporäres Saisonprogramm, das
       maximal 90 Tage dauert. Damit ist Georgien das erste Land, mit dem
       Deutschland ein Drittstaatenabkommen geschlossen hat. Das Pilotprogamm ist
       zunächst einmal auf ein Jahr angelegt.
       
       In vielen Arbeitsverträgen wird ein Mindestlohn von 9,35 Euro genannt. Das
       entspricht nicht dem gesetzlichen Mindestlohn. Allein das ist schon ein
       Verstoß gegen deutsches Recht, weil der gesetzliche Mindestlohn zum 1. Juli
       2021 auf 9,60 Euro erhöht wurde. Die Betroffenen werden jedoch nach Gewicht
       bezahlt: Drei Euro erhalten sie für fünf Kilogramm. Viele schaffen maximal
       zehn Kilogramm in einer Stunde, das entspricht einem Stundenlohn von sechs
       Euro.
       
       In ihrer Kampagne für die bevorstehende Bundestagswahl am 26. September
       2021 versucht die SPD mit der Forderung nach einer Erhöhung des
       Mindestlohns bei den Wähler*innen zu punkten. Der SPD-Spitzenkandidat
       Olaf Scholz verspricht sogar 12 Euro Mindestlohn.
       
       Und was hält Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) davon? Was beabsichtigt
       sein Ministerium in diesem Fall zu unternehmen? Die von der taz
       geschilderten Beschwerden von georgischen Saisonarbeitskräften findet das
       Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) „bedauerlich“. Die
       operative Umsetzung der Vermittlungsabsprache obliege jedoch der
       Bundesagentur für Arbeit (BA).
       
       ## Kein Einfluss auf Arbeitsverträge
       
       Aus welchem Grund ist der Abschluss solcher Verträge zum jetzigen Zeitpunkt
       überhaupt noch möglich, wo doch ein Mindestlohn von 9,60 Euro gelten
       sollte? In einer Stellungnahme der Bundesagentur für Arbeit gegenüber der
       taz heißt es: „Möglicherweise haben Arbeitgeber hier versehentlich Zahlen
       aus Vorjahresverträgen übernommen“. Allerdings habe die BA keinen Einfluss
       auf die anschließend zwischen Arbeitgeber und Saisonkraft ausgehandelten
       Arbeitsverträge, die der Vertragsfreiheit unterlägen.
       
       Das heißt, es ist nicht ausgeschlossen, dass bei anderen Hunderttausenden
       Saisonarbeiter*innen ähnliche Probleme auftauchen könnten.
       
       Als Reaktion auf einen [1][Bericht der taz über den Umgang mit georgischen
       Erntehelfer*innen in Friedrichshafen] besuchten lokale
       Hilfsorganisationen das Erdbeerfeld. Margarete Brugger, Beraterin von der
       Organisation „mira – Mit Recht bei der Arbeit“ berichtet gegenüber der taz:
       „Niemand hatte einen Arbeitsvertrag auf Papier. Die Arbeitsverträge wurden
       von dem Hofbesitzer eingesammelt. Gleich nachdem Erntehelfer*innen
       angekommen waren, hat er die Arbeitsverträge wieder an sich genommen. Zudem
       haben die Saisonarbeitenden die Arbeitsverträge erst beim Abflug aus
       Georgien bekommen. Sie waren auf Deutsch oder Englisch. Viele haben
       überhaupt nicht verstanden, was für einen Arbeitsvertrag sie hatten“.
       
       Überdies hat der [2][Bundestag für die Ausweitung der
       sozialversicherungsfreien Beschäftigung für Saisonkräfte] auf 102 Tage
       gestimmt. „Das sind dieselben Erntehelfer*innen, die z.B. die Bundesagentur
       für Arbeit mit Euren Beiträgen zur Arbeitslosenversicherung für die
       Landwirte aus Georgien anwirbt. Das ist nichts anderes als staatlich
       subventioniertes Lohndumping auf Kosten der Beitragszahler“, kommentiert
       die Organisation Arbeitsunrecht Deutschland auf Facebook.
       
       ## Fuß und Rippen verletzt
       
       Brugger und ihre Kolleg*innen konnten den 20 Georgier*innen helfen:
       Weil sie mit den Arbeitsbedingungen auf dem Erdbeerhof bei der „Klink
       Verwaltungs- & Vertriebs GmbH“ am Bodensee unzufrieden waren, wechselten
       sie zu einem anderen Hof in Niedersachsen. Drei weitere Arbeitskräfte
       wurden direkt nach Georgien zurückgeflogen. Sie seien krank. Einer habe
       sich den Fuß, der andere an den Rippen verletzt, berichtet Margarete
       Brugger.
       
       Der Hofbesitzer Walter Klink weist alle Vorwürfe zurück. „Die
       Georgier*innen wurden bezahlt und sind schon längst weg. Es ist die
       Organisation mira, die Lügnereien verbreitet“, sagt er der taz. Gedanken
       über die Lohnklage, die mache er sich gar nicht.
       
       Einige der Erntehelfer*innen hätten das Arbeitsgericht Friedrichshafen
       ersucht, für sie eine Lohnklage einzureichen. Das Arbeitsgericht Ulm, die
       Kammer in Ravensburg, hat die Lohnklage der georgischen Saisonarbeitenden
       angenommen. Es wird einen Termin für eine Güteverhandlung geben. Der werde
       voraussichtlich Online stattfinden, erzählt Brugger.
       
       Dafür hatten die Georgier*innen Vollmachten unterschreiben lassen und
       ein Schreiben an die Rechtsantragsstelle in Friedrichshafen geschickt. „Das
       Gesetz ist auf Seite der Saisonarbeitenden“, sagt sie.
       
       26 Jul 2021
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Tigran Petrosyan
       
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