URI: 
       # taz.de -- Bauarbeiter*innen auf der Zinne: Zuckerwatte gegen den Tariffrust
       
       > Die Baubranche boomt – die Beschäftigten wollen auch davon profitieren.
       > Am Samstag protestierten in Osnabrück Bauarbeiter*innen.
       
   IMG Bild: Wie weit die Anfahrt zur Baustelle ist, interessiert viele Arbeitgeber*innen nicht
       
       Osnabrück taz | Auf dem Platz vor dem Osnabrücker DGB-Haus wuchtet ein
       bronzener „Stahlarbeiter“ mit nacktem Oberkörper eine gewaltige Kurbelwelle
       über den Boden. Die pathetische Klassenkampf-Kunst von Tud Majores ist die
       perfekte Kulisse für den Protest, den Bauarbeiter*innen aus
       Niedersachsen, Schleswig-Holstein, Bremen und Hamburg hier am vergangenen
       Samstag auf die Straße getragen haben.
       
       Laut Polizei sind es in Osnabrück rund 500 Menschen, die gegen das Stocken
       der Tarifverhandlungen für die bundesweit knapp 900.000 [1][Beschäftigten
       der Baubranche] demonstrieren. Mit Kompressor-Fanfaren und Trillerpfeifen,
       Fahnen und schwarzen T-Shirts mit „Hard Working Heroes since 3.000 B.C.“
       auf der Brust. Viele kamen in Warnweste, manche demonstrativ in
       Firmenkleidung, einige in Zunftkluft.
       
       Olaf Cramm, Gewerkschaftssekretär des DGB in der Region
       Osnabrück-Emsland-Grafschaft Bentheim, nickt zufrieden: „Geil!“, sagt er
       und lässt den Blick über die Menge schweifen. „Super Resonanz dafür, dass
       Ferienzeit ist. Und Wochenende.“ Pause. Blick nach oben. „Und Regen!“
       Später, auf der Bühne, als Redner, wird er davon sprechen, dass es jetzt
       gilt, „zu zeigen, wo der Hammer hängt“.
       
       Die Kundgebung in Osnabrück ist Teil eines bundesweiten Aktionstages zur
       aktuellen Bau-Tarifrunde, und im Grunde ist sie ein Familienevent. Links
       neben der Bühne ragt eine gewaltige Hüpf- und Kletterburg auf, und wenn die
       Kids richtig toben, kommt selbst der Aufblaskran, ganz oben, gehörig ins
       Wanken. Es gibt Pommes und Zuckerwatte. Zwischendrin spielen zwei
       Gitarristen ausgerechnet „Let It Be“ von den Beatles.
       
       ## Die letzte Verhandlung ist Monate her
       
       Lass es gut sein? Hauptredner Carsten Burckhardt, Mitglied im
       IG-BAU-Bundesvorstand und Verhandlungsführer im Tarifstreit, ruft zum
       Gegenteil auf. „Das hier ist der Auftakt für einen heißen Herbst!“, ruft er
       in die Menge. Burckhardt geht mit der Arbeitgeberseite hart ins Gericht.
       Sie blockiere die Verhandlungen für einen neuen Tarifvertrag. Frech sei
       das, respektlos. An Gerechtigkeitsfragen sei sie nicht interessiert,
       [2][nur an Profitmaximierung]. Burckhardt mag es markig. Einmal sagt er:
       „Manchmal kann man gar nicht so viel essen, wie man kotzen muss!“
       
       Konkret geht es um 5,3 Prozent mehr Lohn, Gehalt und Ausbildungsvergütung
       für die Beschäftigten im Bauhauptgewerbe. Die Beschäftigten fordern zudem
       höhere Entschädigungen für die oft stundenlangen Fahrten zur Baustelle. Und
       es geht um Westlöhne auch im Osten. Die erste Verhandlungsrunde ist schon
       drei Monate her. Ende August soll in Berlin weiterverhandelt werden– und
       das ist dringend nötig: Der Tarifvertrag im Bauhauptgewerbe ist schon am
       30. Juni ausgelaufen.
       
       Die Arbeitgeberseite hatte in der ersten Runde ein Angebot vorgelegt,
       danach waren die Gespräche zeitweise abgebrochen. Ende Juli hatten
       Arbeitgeber und Arbeitnehmer einen Fahrplan für die weiteren Verhandlungen
       bei den Bau-Tarifen vereinbart. „Wir sind zuversichtlich, dass wir in den
       kommenden Runden bis Ende September eine Einigung erzielen können“, hatte
       Jutta Beeke, Vizepräsidentin des Hauptverbands der Deutschen Bauindustrie
       zuletzt mitgeteilt.
       
       „Konstruktive Verhandlungen? Ja!“, ruft Burckhardt auf der Bühne.
       „Verarschung? Nein!“ Denn eigentlich – sieht man von der weltweiten
       Materialknappheit ab, die manche Unternehmen trotz voller Auftragsbücher in
       die Kurzarbeit zwingt – geht es der Baubranche gut. „In Niedersachsen und
       im gesamten Norden laufen die Arbeiten auf den Baustellen trotz der
       Pandemie nach wie vor auf Hochtouren“, sagt der niedersächsische
       IG-BAU-Regionalleiter Eckhard Stoermer. Von den Profiten dieser guten
       Auftragslage müsse nun auch etwas bei den Beschäftigten ankommen.
       
       Nicht alle Unternehmer*innen halten es so: In der Vergangenheit hat
       die Gewerkschaft immer wieder auch strengere Maßnahmen und mehr
       [3][Kontrollen gegen Mindestlohn-Betrug] gefordert. Dabei geht es um
       tausende Angestellte. Laut Bundesfinanzministerium leitete die
       Finanzkontrolle Schwarzarbeit 2020 bundesweit 4.220 Ermittlungsverfahren
       wegen Mindestlohnverstößen ein. In Niedersachsen deckte der Zoll 247 Fälle
       auf. Die Dunkelziffer dürfte höher liegen.
       
       ## Tarifmauer aus Kartons
       
       In Osnabrück aber geht es vor allem um den neuen Tarifvertrag. Und umso
       länger der Aktionstag dauert, desto mehr starke Sprüche sind zu hören.
       Dass, wer Wind sät, Sturm erntet. Dass, wer seine Knochen hinhält,
       Anerkennung verdient. Auch eine Anspielung auf das Bundeslied des
       Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins fällt, 150 Jahre alt, von Georg
       Herwegh, dem revolutionären Dichter: „Wenn Dein starker Arm es will, stehn
       auch alle Bagger still!“
       
       Eine „Tarifmauer“ aus schwarz gestrichenen Umzugskartons, die ein
       Performance-Trupp zum Einsturz bringt, sorgt für unfreiwillige Lacher. Bei
       den Buchstabenschildern, die dahinter „Wir sind es wert!“ ergeben sollen,
       ist die Reihenfolge vertauscht – Rätselraten setzt ein.
       
       Aber das macht nichts, denn der Rest der Aktion ist stimmig. Der nach einem
       der Begründer der deutschen Sozialdemokratie benannte August-Bebel-Platz
       ist in Rot getaucht: Rote Pavillions, rote Fahnen, rote Basecaps. Ein
       gewaltiges CDU-Wahlplakat wird mit rotem Tuch verhängt, die Laternenplakate
       zur Kommunalwahl von SPD und FDP für die Fotos weggedreht.
       
       Apropos Parteien: Um ihre Solidarität zu bekunden, kommen am Samstag auch
       die örtlichen Linken vorbei. Und sie scheinen schon zu ahnen, wie die
       Tarifverhandlungen ausgehen: Man wünsche „weiterhin Mut für einen
       erfolgreichen Streik“ erklären sie. Heidi Reichinnek, ihre
       Bundestags-Kandidatin, hat eine Öko-Jutetasche voller Gebäck dabei.
       Nervennahrung für die Leute vom Bau.
       
       (Mit Material der dpa)
       
       9 Aug 2021
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Architektin-ueber-Klimakrise-und-Stadt/!5744660
   DIR [2] /Profit-Wahn-von-Vermieterinnen/!5774334
   DIR [3] /Ausbeutung-von-Erntehelferinnen/!5787361
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Harff-Peter Schönherr
       
       ## TAGS
       
   DIR Bauwirtschaft
   DIR Tarifverhandlungen
   DIR Osnabrück
   DIR Energetische Sanierung
   DIR Verdi
   DIR Mindestlohn
   DIR Flächenverbrauch
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR EU-Gebäudesanierungspflicht: Viele Fragen bleiben offen
       
       Die Pläne der EU-Kommission, eine Sanierungspflicht für energiefressende
       Gebäude einzuführen, stoßen auf Kritik. Verbände fordern klarere Ansagen.
       
   DIR Streik in Berlins Einzelhandel: Helden der Arbeit wollen Geld sehen
       
       Beschäftigte im Einzelhandel streiken in Berlin und Brandenburg für mehr
       Lohn. Die Betriebe blockieren trotz Pandemie-Gewinnen.
       
   DIR Zoll und Schwarzarbeit: Viele Verstöße gegen Mindestlohn
       
       Der Zoll leitete 2020 über 4.200 Ermittlungsverfahren wegen Löhnen unter
       gesetzlichen Limits ein. Die meisten Verstöße hätten auf Baustellen
       stattgefunden.
       
   DIR Bodenversiegelung in Niedersachsen: Bauboom auf der grünen Wiese
       
       Im Emsland wird so viel Boden verbraucht wie kaum anderswo. Im Kreis
       Diepholz geht ein Bürgermeister gegen den Flächenfraß vor. Mit Erfolg.